EMtaz: Sport und Gesellschaft: Fußball, Klasse, Leidenschaft
Worum geht’s beim Kicken? Und warum gucken wir zu? Zehn Thesen zum Unfug vom unpolitischen Fußball und wieso das so ein großartiges Spiel ist.
1. Fußball ist kein Abbild der Welt. Nein, nicht mal, wenn die Schließung der britischen Abstimmungslokale und der Schlusspfiff beim England-Island-Spiel zeitlich zusammengefallen wären, hätte sich der Brexit im Verlauf der EM widergespiegelt.
2. Fußball ist kein zweckfreies Spiel. Selbst wenn die Three Lions gegen Island den souveränen Sieg erreicht hätten, den das Gros der Fußballöffentlichkeit erwartet hatte, könnte man Fußball weder unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen betrachten noch betreiben.
3. Fußball außerhalb der Gesellschaft ist nicht denkbar. Er ist deswegen weder Widerspiegelung anderer, vermeintlich wichtigerer Entwicklungen noch eine freischwebende Form von l'art pour l'art, da er der Gesellschaft nicht passiv gegenübersteht. Er ist vielmehr aktiv und kreativ betriebener Teil der Gesellschaft, hier werden ökonomische Werte produziert und Emotionen ausgelebt.
4. „Der Sport verfügt über eine relativ autonome Geschichte, die noch dort, wo sie von den herausragenden Ereignissen der ökonomisch-politischen Geschichte markiert wird, ihrem eigenen Tempo und ihren eigenen Entwicklungsgesetzen folgt, die ihre spezifischen Krisen und ihre spezifische Chronologie aufweist.“ (P. Bourdieu)
5. Fußball ist Ausdruck von Leben. „Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (K. Marx) Ob Abseitsregel oder Nachspielzeit, Torlinientechnik oder Handspiel, Viererkette oder Torjubelritual: Ein Fußballspiel ist immer auch ein Arrangement mit den Verhältnissen.
6. Football makes gender. Der Fußball, den wir meinen, wenn wir das Wort hören, ist Männerprofifußball. Wir reden nicht nur über einen kapitalistisch organisierten Sport, sondern auch über eine maskuline Veranstaltung. Im Fußball werden nicht nur männliche Rollenbilder eingeübt, sondern sie entstehen da.
7. „Fußball ist Freiheit.“ (Bob Marley) Weder das englische Nationalteam noch seine Fans haben den EM-Brexit gewollt, begrüßt oder ihn bewusst vollzogen. Im Gegenteil: Sie haben sich mit ihren Mitteln dagegen gewehrt und sind gescheitert. Fußball ist eine Arena der Kinder der working class. Fußball bietet – wie auch beispielsweise die Musik – die Möglichkeit, sich auf eine eigene, mitunter subversive Form auszudrücken. Er stellt die Chance zum sozialen Aufstieg dar, zur Verwirklichung von Träumen.
8. Fußball besitzt eine enorme politische Kraft. „Dann aber glaube ich auch, dass wir in dieser entscheidenden Schicht der marxistischen Theorie umso mehr helfen, je weniger wir sie äußerlich uns unterwerfend aneignen; dass hier das ‚Ästhetische‘ unvergleichlich viel tiefer in die Wirklichkeit revolutionär wird eingreifen als die Klassentheorie als deus ex machina.“ (T. W. Adorno an W. Benjamin)
Ein Spiel, das Leidenschaften freisetzt und erzeugt, die im übrigen Leben für die meisten Menschen kaum denkbar sind: lautes Schreien, anhaltendes Weinen, vulgäres Schimpfen, inbrünstiges Jubeln, gleichgeschlechtliches Küssen und bei einigen Fans sogar die Bereitschaft, europäische Innenstädte zu zerlegen, kann gar nicht unpolitisch sein.
9. Fußball ist ein evolutionäres Versprechen. Was der Mensch könnte, wenn er nicht entfremdet in arbeitsteiliger Gesellschaft lebte und arbeitete, das kann er im Fußball erblicken, in der Schusstechnik, der Ballbehandlung und der Eleganz großer Spieler. Über die evolutionäre Entwicklung der Hand heißt es bei Friedrich Engels, sie sei nicht nur Organ der Arbeit, sondern auch ihr Produkt.
Hässliche Hooligans von A bis H
„Nur durch Arbeit, durch Anpassung an immer neue Verrichtungen, durch Vererbung der dadurch erworbenen besondern Ausbildung der Muskeln, Bänder, und in längeren Zeiträumen auch der Knochen, und durch immer erneuerte Anwendung dieser vererbten Verfeinerung auf neue, stets verwickeltere Verrichtungen hat die Menschenhand jenen hohen Grad von Vollkommenheit erhalten, auf dem sie Raffaelsche Gemälde, Thorvaldsensche Statuen, Paganinische Musik hervorzaubern konnte.“ Was ein menschlicher Fuß vermag, das verheißt der Fußball.
10. „Grau ist alle Theorie. Maßgebend ist auffem Platz.“ (Adi Preißler)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist