EM-Highlight Türkei gegen Georgien: Fußball im Vollrausch
Die Türkei und der EM-Debütant Georgien lieferten sich eine atemlos schöne Partie. Im Sturm von Schallwellen der Fans gewannen die Türken.
Als außenstehender, der Nüchternheit verpflichteter Beobachter hätte man einwerfen mögen, dass lediglich eine Partie zwischen zwei mittelmäßigen Mannschaften anstünde, die auf der Fifa-Weltrangliste Platz 40 (Türkei) und Platz 75 (Georgien) einnehmen. Doch das Spiel war so hinreißend dramatisch und schön, genau der Vollrausch, den sich beide Fanlager zuvor erträumt hatten, auch wenn es am Ende mit Georgien einen Verlierer gab.
Äußerst versonnen blickte deren Trainer Willy Sagnol nach der Partie drein. „Ich bin sehr stolz, Teil dieses schönen Moments zu sein“, erklärte er nach der durchaus gelungenen EM-Premiere Georgiens. Er wolle nicht behaupten, ein glücklicher Verlierer zu sein, aber genau so sah der Franzose aus. Natürlich nicht minder glücklich wirkte auf der anderen Seite der italienische Kollege Vincenzo Montella, der das türkische Team betreut. „Ein tolles Match“ sei es gewesen. „Das schönste Geschenk, das man mir machen konnte.“
Über alle Maßen beschenkt fühlten sich auch die schätzungsweise 50.000 Anhänger des türkischen Teams, die aus ganz Europa zu diesem Spiel angereist waren. Vor der Partie versammelten sich jeweils die unterschiedlichsten Communitys vor den Stadiontoren. Aus Paris, Rotterdam, Istanbul und Solingen etwa waren sie angereist. Die Besucher aus Rotterdam erzählten, dass sie über ein inoffizielles Ticketportal 300 Euro pro Karte bezahlt und notfalls noch viel mehr ausgegeben hätten. Es sei eine einmalige Gelegenheit. So viele türkische Fans bei einem so großen Turnier in einem Stadion, das hätte es noch nie geben.
Auf die Ohren!
Sie erzeugten dann einen derartigen Sturm von Schallwellen, dass sich die Frage aufdrängte, ob es diese einzigartige Atmosphäre war, die eine derart atemlose Partie ermöglichte. Ob die Akteure auf dem Feld gar nicht anders konnten, als die Schwingungen auf ihr Spiel zu übertragen. „Es ist nicht genug zu sagen, dass die Unterstützung großartig war, es war mehr als das“, lobte der 19-jährige Arda Güler, der bei seiner Auswechslung vom Publikum nicht nur für seine fantastische Schusstechnik und den wunderschönen zweiten Treffer in der 65. Minute gefeiert wurde.
Mit seiner Ballsicherheit schaffte es der erst 19-Jährige, noch etwas schmächtig wirkende Mittelfeldspieler von Real Madrid in der ersten Hälfte gar auf eine statistische Passgenauigkeit von hundert Prozent und könnte eine der großen Entdeckungen dieses Turniers werden. In dem Alter hatte bislang noch kein Spieler bei einer Europameisterschaft getroffen.
Solche Statistiken würden ihn nicht sonderlich interessieren, behauptete Güler später. Die vielen Glückwünsche auf seinem Handy habe er nur selektiv gescannt. „Ich habe das gelesen, was Ancelotti mir geschrieben hat. Ancelotti unterstützt mich sehr.“ Carlos Ancelotti, mit Real Madrid derzeit erfolgreichster Trainer Europas, hat Güler bereits eine besondere Zukunft vorausgesagt. Er müsse nur körperlich noch ein wenig zulegen.
Für diesen denkwürdigen Abend sorgten aber weitere 30 Fußballer, die nur eines im Sinn zu haben schienen: Nur keine Zeit mit taktischen Sperenzien verlieren, so schnell wie möglich den Gegner in Verlegenheit bringen. Unglaubliche 37 Abschlüsse notierte die Uefa, zweimal wackelte der Pfosten, einmal die Latte. Und die Tore waren abgesehen vom letzten Schuss von Kerem Aktürkoglu aufs leere Tor in der Nachspielzeit zum 3:1 von ausnehmender Schönheit.
Mit Liebe
Einen ersten Ausbruch der Ekstase erzeugte Mert Müldür, als er mit großer Liebe zum Risiko den Ball per Volleyschuss zur ersten Führung der Türkei in die Maschen donnerte. Im Himmel wähnten sich wohl etliche, als Kenan Yildiz zum vermeintlichen 2:0 traf. Die Abseitsentscheidung per Videobeweis leitete indes einen kurzen jähen Absturz ein. In dieser Phase, bemängelte Trainer Vincenzo Montella, habe man „etwas nachgelassen“. Es blieben die einzigen Minuten, in denen dem türkischen Team dieser Vorwurf gemacht werden konnte.
Georgien, deren Ballbesitzphasen von den türkischen Fans mit schrillen Pfiffen markiert wurden, blieb erstaunlich unbeirrt und kombinierte sich wunderschön zum Ausgleich durch Georges Mikautadze (32.). Die Partie wogte hin und her. Und auch nach dem bereits erwähnten Kunstschuss von Güler sollte dies so bleiben. Die EM-Neulinge aus Georgien hatten in den Schlussminuten den Ausgleich mehrmals auf dem Fuß.
So konnten am Ende eben beide Trainer fast nichts finden, was zu bemäkeln gewesen wäre. Montella ordnete die Leistung gleich historisch ein. „Es war das Auftaktspiel. In unserer Geschichte ist es uns noch nicht gelungen, Auftaktspiele zu gewinnen.“ Und er vergaß auch nicht, daran zu erinnern, dass man bei der letzten EM nicht einen Punkt erzielt hatte. Ein derartiges Spiel hatte in der Türkei gewiss niemand erwartet, einen Sieg gegen Georgien wurde vorab für eine größere Selbstverständlichkeit gehalten, als er es in der Realität dann war.
Insofern hat Montella bei dieser EM auch gegen nicht ganz bescheidene Erwartungshaltung in seinem Arbeitgeberland zu kämpfen. Auf die Frage, welche Träume für das türkische Nationalteam bei dieser EM nun möglich seien, antwortete er: „Mein Traum ist es jetzt, das nächste Spiel zu gewinnen und uns für die nächste Runde zu qualifizieren. Und dann werden weitere Träume kommen.“ Zuerst einmal werde man sich über dieses Spiel freuen. Ein Moment des Innehaltens und Genießens, das haben sich alle Beteiligten dieser Partie nun wirklich verdient.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“