Drogenproblem in Neukölln: Drogenelend vor barocker Kulisse
Der Körnerkiez ist ein Hotspot der Drogenszene. Anwohner sind verärgert, Sozialarbeiter:innen fordern mehr Anlaufstellen.
Seit einigen Jahren gibt es im Körnerkiez ein Drogenproblem. Spritzen liegen in Parks und auf dem Gehweg, obdachlose Menschen müssen die Straße als ihr Wohnzimmer nutzen, da sie kein eigenes haben. Der Konsum findet auf offener Straße statt. „Neulich war ich im Park. Auf einer Bank saß eine Mutter und stillte ihr Kind. Zwei Meter hinter ihr hat sich ein Junkie einen Schuss gesetzt“, schildert eine Anwohnerin die Situation. „Für Leute, die das nicht kennen, mag das schockierend klingen, aber für uns hier ist das eine bekannte Szene.“
Um die Gemüter zu beruhigen und Lösungen zu finden, hat das Bezirksamt Ende Mai zum Dialog geladen. „Schon seit Längerem häufen sich die Beschwerden zur Drogenproblematik in Neukölln“, heißt es in der Einladung. Bürger:innen, Mitarbeiter:innen von Polizei, Ordnungsamt und Grünflächenamt sowie Straßensozialarbeiter:innen haben sich dazu in der Magdalenenkirche in der Karl-Marx-Straße versammelt, in die die ursprünglich im Gemeindesaal anberaumte Veranstaltung wegen des großen Andrangs verlegt werden musste.
Die neue Suchthilfekoordinatorin des Bezirks, Lilli Böwe, eröffnet die Veranstaltung und stellt klar: „Ordnungspolitik ist im Moment nicht sinnvoll. Wir können die Menschen nicht einfach vertreiben.“ Bei Fragen oder Anliegen sollen sich die Anwesenden gern an sie wenden, betont Böwe. Im Anschluss sollen in Kleingruppen Probleme benannt und Lösungen gefunden werden.
Kaum Rückzugsorte
Inwieweit sich die Drogenproblematik in den vergangenen Jahren tatsächlich verschärft hat, ist schwer zu fassen. Aktuelle Zahlen zur Suchtproblematik im Kiez gibt es nicht. Die Stigmatisierung von Suchtkranken sowie Furcht vor Repression erschwert die Erhebung von Daten. Die Anwesenden sind sich allerdings einig, dass es mehr geworden ist. „Ich wohne seit über 14 Jahren im Kiez und das Problem ist in den letzten zwei Jahren massiv schlimmer geworden“, bringt es einer von ihnen auf den Punkt.
Streetworker Malte Dau von Fixpunkt sagt, das Problem sei nicht unbedingt größer, aber sichtbarer geworden. Der Verein betreibt akzeptierende Drogenhilfe und unterstützt suchtkranke Menschen durch Sozialberatung und medizinische Betreuung. Die größere Sichtbarkeit des Drogenkonsum liege unter anderem daran, dass es immer weniger Brachen gibt, erklärt Dau. Die ungenutzten Flächen sind ein beliebter Rückzugsort für Suchtkranke, weil sie dort niemanden stören. Die Schließung des Drogenkonsumraums in der Karl-Marx-Straße 202, direkt gegenüber der Magdalenenkirche, hat den Konsum zusätzlich auf die Straße verlagert. Wegen eines Wasserschadens ist der Raum seit März dicht. Wann er wieder öffnet, ist unklar.
Selbst wenn die Räume nicht geschlossen sind, gibt es Hürden für die Besucher:innen. Etwa die eingeschränkten Öffnungszeiten bis lediglich 18 oder 19 Uhr. Die Berliner Rechtsverordnung gibt zudem vor, dass sich die Bedürftigen vor dem ersten Besuch in jedem Drogenkonsumraum registrieren müssen. Dafür müssen sie ihren Personalausweis vorzeigen und teilweise sogar ihre Suchthistorie offenlegen. „Wenn ich in eine Kneipe gehe, muss ich mich auch nicht vorher nackig machen und angeben, was ich konsumiert habe und wie oft“, kritisiert Dau.
Wenn der Sozialarbeiter sich im Umgang mit suchtkranken Menschen etwas wünschen dürfte, wäre es ein Raum, der rund um die Uhr geöffnet ist. „Wir hatten vor der Coronapandemie um die 2.000 Besucher pro Monat, teilweise auch über 200 am Tag“, erzählt Dau. „Die Menschen haben den Raum auch als Wohnzimmer genutzt. Sie haben sich gestritten, vertragen, geliebt, gehasst. So wie es im Leben halt ist“, erzählt er.
Legalisierung schützt
Durch Öffnungszeiten rund um die Uhr hätten die Bedürftigen einen Ort, den sie jederzeit aufsuchen können. Neben der sicheren Aufbewahrung ihrer Wertgegenstände gäbe es die Möglichkeit der Unterstützung durch eine Sozialberatung. Auch der Safer Use von Drogen durch ein sauberes Umfeld und sterile Spritzen sowie die Betreuung durch Ärzt:innen wäre gewährleistet, zählt Dau die Vorteile einer Rund-um-die-Uhr-Anlaufstelle für Drogenabhängige auf.
Dau arbeitet schon seit über 20 Jahren bei Fixpunkt und leitet in Neukölln ein kleines Team aus Streetworker:innen. In seinem Büro unweit des Neuköllner Rathauses stapeln sich in einem Regal kleine Kartons mit sterilen Spritzen und anderen Utensilien. Es sieht ein wenig so aus, als hätte das Team Coronatests für die nächsten zehn Jahre gehortet. Durch das offene Fenster hört man die Vögel im Hinterhof zwitschern.
Daus Kollegin Maria Schaal, die seit einem guten halben Jahr Teil des Teams ist, hat einen noch weitreichenderen Wunsch: Die Legalisierung aller Drogen – nicht nur von Alkohol und Nikotin. Vor dem Hintergrund der stockenden Legalisierung von Cannabis scheint diese Forderung allerdings unrealistisch. Dabei würde die Legalisierung weiterer Substanzen einige Vorteile mit sich bringen, findet Schaal. Die Konsumierenden würden durch eine Qualitätskontrolle vor Unreinheiten und beigemischten Substanzen geschützt und die Beschaffungskriminalität fiele weg.
„Für wen hat es einen Mehrwert, Leute wegzuknasten, die ein paar Drogen dabeihaben?“, fragt Schaal. Zudem könnten die wegfallenden Gelder für die Haftkosten so anderweitig eingesetzt werden: für mehr Personal zum Beispiel oder neue Räume.
Drogenproblematik zur Chefsache
Um neue Räume ist auch das Bezirksamt Neukölln bemüht. „Eine konkrete Immobilie ist leider im Augenblick nicht im Blick“, heißt es auf taz-Anfrage: Allerdings nehme man Hinweise auf geeignete Gewerberäume gerne entgegen.
Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) möchte die gesammelten Forderungen der Bürger:innen nun in einer „gesamtstädtischen Strategie“ umsetzen. Konkreter wird Hikel nicht. „Wir ersticken in Neukölln im Konsum und unter den Folgen – aber das ist ja kein Neuköllner Problem“, so Hikel zur taz.
Da das Thema so viele Bereiche betrifft, sollen die Senatsverwaltungen für Gesundheit, Finanzen, Inneres, Stadtentwicklung, Soziales, Umwelt und Verkehr einbezogen werden – genauso wie externe Partner, von der BVG über die Polizei, der Kassenärztlichen Vereinigung bis zu sozialen Trägern. Das Thema müsse „endlich zur Chefsache“ werden, erklärt Hikel. Wann die Strategie erarbeitet sein soll, lässt er offen. Es wird sicherlich nicht die letzte Gesprächsrunde zur Drogenproblematik im Körnerkiez gewesen sein.
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