Dramaturg*innen über Bären-Theater: „Ein selbstgemachtes Problem“
Schuld ist der Mensch: Statt winterzuschlafen, ängstigen in Nord-Mazedonien hungrige Bären die Leute. Les Dramaturx machen das in Hamburg zu Theater.
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taz: Lynn T. Musiol, Christian Tschirner, wie kommen Theaterleute dazu, sich mit Bären zu beschäftigen – noch dazu denen in Nordmazedonien?
Christian Tschirner: Wir haben eine Einladung bekommen zu einem Schreibworkshop, nach Skopje, Nordmazedonien. Wir hatten überhaupt keine Ahnung von dem Land und von den Leuten da, interessieren uns aber seit längerem schon für klimapolitische Themen. Dort haben wir dann auch eine Autorin kennengelernt…
taz: … Ana Trpenoska …
Tschirner: … die uns diese Geschichte erzählt hat: Dass eben in diesem Nationalpark die Bären nicht in den Winterschlaf finden. Weil es durch den Klimawandel zu warm ist im Winter, und sie dann in die Dörfer gehen, weil sie im Wald nicht genug Nahrung finden. Das fanden wir auf Anhieb interessant als Geschichte. Dann ist Lynn da hingefahren, und daraus ist dann das Stück geworden.
Musiol: Das reiht sich von der Form her ein in die Abende, die wir schon gemacht haben, „Bitter Fields“ oder „Ödipus in der Giftfabrik“ beim Festival „Osten“: Nämlich, dass wir mit einer persönlichen Anbindung im Stil einer Recherchereise erzählen. Hier haben wir noch den Luxus, dass Ana ein richtiges Stück geschrieben hat.
taz: Ihr lasst das Publikum mitvollziehen, wie eure Recherche verlaufen ist?
Musiol: Genau. Die Reise ist auch geprägt von ein bisschen Naivität: Wir stellen zum Beispiel aus, dass ich überhaupt keine Ahnung habe von Bären, mich aber für das Naturschutzprojekt interessiere. Die Zuschauer*innen machen diese Reise mit, auch die Widersprüche: Wir stellen immer unsere eigenen Widersprüche in den Vordergrund. Das ist im Prinzip eine Art Selbstaufklärung, stellvertretend vielleicht für ein westliches Publikum.
Tschirner: Aber es ist ein richtiges Stück, das Ana geschrieben hat, mit Szenen, in denen Lynn in Nordmazedonien unterschiedlichen Leuten begegnet und unterschiedliche Erfahrungen macht.
taz: Welche Widersprüche sind da noch mit im Spiel?
Musiol: Von der Kultur aus gesprochen ist natürlich schon ein Widerspruch, dass wir dafür bezahlt werden, dort einen Workshop zu geben. Wie sinnvoll ist es, so einen Workshop in einem Land zu geben, dessen Theaterkultur man überhaupt nicht kennt? Tatsächlich war das auch eine unserer Erfahrungen: Man bekommt Stückskizzen oder Szenen, die man dann gar nicht versteht. Die Autor*innen dort lachen sich tot, weil das irgendwie super lustig ist. Und man selbst sitzt etwas ratlos davor. Weil wir die Referenzen und auch die historischen Hintergründe, die Codes überhaupt nicht verstehen. Mit welcher Ansicht gehe ich als queere Großstädter*in in einen Nationalpark, in dem ich dann Menschen treffe, die mit meiner Lebensrealität natürlich nichts zu tun haben – und umgekehrt? Was für Erlebnisse kommen dann auf, was für Missverständnisse auch? Das versuchen wir mit einem Augenzwinkern zu erzählen.
Tschirner: Der Workshop findet statt, weil man dann vom Westen Geld für das Klimathema bekommt. Den Autor*innen dort brennen aber ganz andere Sachen unter den Nägeln: Die Luftverschmutzung in Skopje ist horrend, weil dreckiges Öl verbrannt wird. Nordmazedonien bezieht Müll aus der EU, der dann dort verbrannt wird. Es gibt Korruption, es gibt Armut, es gibt Landflucht und so weiter. Und wir kommen relativ abstrakt, sage ich mal, mit unserem Klimathema daher? Da stoßen Welten aufeinander. Klar, das übertreiben wir auch ein bisschen, weil es soll auch unterhaltsam sein. Aber die Konflikte sind echt.
taz: Und die Zutaten sind globale: Dass eine Region zur Müllhalde der EU wird, was durch Korruption vermutlich nicht erschwert wird, etwa. Andererseits ist der Sinn von Klimaschutzmaßnahmen ja nicht ernsthaft zu leugnen.
Tschirner: Eine markante Szene in dem Stück ist, als Lynn in dem Nationalpark unterwegs ist, und plötzlich ist die Straße blockiert: Es gibt eine Demo von Ökoaktivist*innen und Anwohner*innen und Lynn ist ganz begeistert, dass die sich gegen die Zerstörung des Nationalparks wehren. Aber sie demonstrieren auch gegen das Bärenprojekt, für das sich Lynn engagiert. Und dann erklärt der Mensch von vor Ort: Na ja, die kriegen das ein bisschen durcheinander, weil die EU hier einen großen Staudamm gebaut hat mit einem Wasserkraftwerk, denn die EU braucht klimaneutralen Strom. Und dafür ist ein Teil des Nationalparks geflutet worden, das hat für großen Ärger gesorgt – und das Bärenprojekt ist halt auch von der EU finanziert. Es ist auch eine Demonstration gegen die EU und ihr Agieren vor Ort.
Musiol: Und dann stehst du da mitten in diesen Widersprüchen und weißt erstmal nicht mehr weiter. Das ist nur ein Beispiel für diese Gemengelage und Komplexität.
taz: Wie sprechen die Menschen dort über die EU? Erscheint die als ambivalent oder ist sie eindeutig ein böser Player?
Tschirner: Die Leute, mit denen wir zu tun hatten, sind schon proeuropäisch. Allerdings ist der Prozess komplex: Mazedonien, so hieß das Land bis 2019, musste den eigenen Namen ändern, auch das Wappen, um überhaupt EU-Kandidat werden zu können. Gleichzeitig sagen einige Länder, zum Beispiel Frankreich, sehr deutlich: Der Zustand der EU ist überhaupt nicht so, dass wir jetzt neue Mitglieder aufnehmen können.
Musiol: Es gibt also relativ viel Skepsis, Sarkasmus und Resignation, was die EU angeht. Viele haben nicht das Gefühl, dass es mit der Annäherung in großen Schritten vorangeht. Andererseits fürchten sie Einflussnahme von russischer Seite und von anderen Playern, dass also das Land auch ein Stück weit geopolitisch unter die Räder kommen könnte.
taz: Sind die Bären da ein dankbarer Stoff, insofern, als sie etwas ansonsten ziemlich Abstraktes greifbar machen?
Tschirner: Ja, die führen uns da durch. Anhand der Bären und der Bemühungen um ihren Schutz können wir verschiedene Widersprüche und Ungeklärtheiten, auch die Naivität von uns Westler*innen, hoffentlich sinnlich und auch ein bisschen lustig abarbeiten.
taz: Man kann kaum anders, als sich erinnert fühlen an die Konflikte um den Wolf. Man muss ja nur raus aus Hamburg oder auch Berlin, dann kommt man in Gegenden, in die er zurückkehrt. Einerseits lässt sich das ökologisch bestens begründen, andererseits hat man vor Ort Betroffenheiten, die das Fehlen von Begeisterung absolut nachvollziehbar erscheinen lassen.
Tschirner: Genau. Der Bär ist nur ein Stück weiter weg, das macht ihn noch interessanter. Aber die Konfliktlinien sind ziemlich die gleichen: Es gibt ein Interesse am Naturschutz, man will ein ökologisches System, in denen der Wolf wieder da ist, in Brandenburg oder in der Lüneburger Heide. Und das kollidiert mit den Lebensvorstellungen der Menschen dort oder auch mit ihrer Wirtschaftsform. Es gibt vielleicht gar nicht die benötigten Flächen, und dann werden alte Ängste wieder geschürt.
Musiol: Einen wichtigen Unterschied gibt es aber auch.
taz: Nämlich?
Musiol: In Nordmazedonien, auf dem Dorf, gab es auch Leute, die mir gesagt haben: Der Bär war schon immer da, wir müssen uns mit ihm arrangieren. Es ist nicht der Bär, sondern wir sind es, wir Menschen, die in den Lebensraum der Bären immer stärker eindringen. Sozusagen eine traditionalistischere Haltung, die gibt es in Brandenburg nicht mehr, weil der Wolf dort 100 Jahre lang ausgerottet war.
taz: Es können also zumindest manche Menschen genau genug hingucken, um zu sagen: Das fällt nicht einfach vom Himmel. Das ist der von uns mitverursachte Klimawandel, wir machen uns das Problem selbst.
Tschirner: Klimawandel einerseits, der spielt eine Rolle, weil die Winter zu warm werden. Da gibt es auch Berechnungen, wie viel Zehntel Grad soundsoviele Tage weniger Winterschlaf bedeuten. Und das heißt, dass sie dann nicht genügend Nahrung finden. Das andere Problem ist, dass auch die Fläche des Nationalparks einfach zerstört wird durch zum Beispiel das Wasserkraftwerk, das klimaneutralen Strom erzeugt. Das ist Territorium, das den Bären weggenommen wird, aber den Menschen auch: Es werden Dörfer geflutet, dadurch engt sich der Lebensraum ein. Oder es werden eben Hotelbauten genehmigt, was eigentlich gar nicht geht – aber es gibt Korruption. Das alles wirkt zusammen und verschärft den Konflikt zwischen Bär und Mensch noch.
taz: Werdet ihr das Stück auch mal vor Ort zeigen?
Musiol: Vorstellbar wäre das total, Lust hätten wir natürlich auch. Hängt, glaube ich, ein bisschen ab von Fördergeldern – auch seitens der EU.
taz: Ausgerechnet die EU.
Tschirner: Genau. Aber wir müssen das ja überhaupt erst mal rausbringen. Wir haben darüber gesprochen, dass es toll wäre, das Stück dann auch dort zu zeigen. Und in Brandenburg: Die Leute würden die Problematik sofort wieder erkennen.
Musiol: Wir machen in der Regel Nachgespräche, haben wir auch bei „Bitter Fields“ gemacht, das sich um den Zusammenhang von Klimakrise und dem Aufstieg der Rechten dreht. Das war toll, weil unterschiedliche Menschen aufeinander getroffen sind. Das waren aufreibende und aber meist sehr konstruktive Gespräche.
Tschirner: Da kommt viel hoch, gerade bei den Menschen, die nicht in den Metropolen wohnen.
taz: Klimawandel und Rechtsruck, von Bären belagerte Dörfer: Was spricht dafür, sich als Theatermenschen solcher tagesaktueller Dinge anzunehmen?
Tschirner: Erstens ist Theater Unterhaltung. Und es lebt ganz stark von Widersprüchen, also auch die „richtigen“ Stücke leben von Konflikten, von Figuren, die in Widerspruch zueinander stehen. Soweit sind wir davon gar nicht davon entfernt. Bei der Performance über Klimawandel und die Rechten thematisieren wir unsere Vorurteile Rechten gegenüber, auch unsere Antwortlosigkeit: Dass wir auf zentrale Fragen unserer Zeit keine Antwort haben, bietet den Rechten gute Angriffsmöglichkeiten. Vieles davon ist den Menschen so halb bewusst und wir können das spielerisch in eine clowneske Form bringen. In der erwähnte Performance bin ich so ein bisschen der dumme August, Lynn ist ein bisschen smarter als ich. Ich bringe halt dauernd so linksliberale Vorurteile, und Lynn kommt dann immer mit irgendwelchen Studien um die Ecke und sagt: Das ist aber Quatsch, das stimmt so gar nicht. Es macht Spaß das durchzuspielen und ist schöner, als wenn man jetzt irgendwie einen Klassiker nimmt und versucht, unsere Problematik jetzt einem Klassiker überzustülpen, was dann meistens hinten und vorne hinkt. Das nervt uns eher: dass man versucht, mit einem kanonischen Stück eine heutige Problemlage abzubilden.
Musiol: Und aus der Perspektive von uns als Dramaturg*innen ist es total interessant zu fragen: Inwiefern kann man eine essayistische Form unterhaltsam darbieten?
taz: Linksliberale Vorurteile werden ihr bei eurem Publikum auch voraussetzen können, oder?
Tag der Bären. Eine Forschungsreise von Ana Trpenoska in Begleitung von Les Dramaturx. Musik: Thomas Leboeg.
Uraufführung: Fr, 14. 2., 19.30 Uhr, Hamburg, Deutsches Schauspielhaus/Malersaal. Weitere Vorstellung: Sa, 8. 3., 20 Uhr
Tschirner: Na, total! Die Idee zu „Bitter Fields“ hatten wir, weil wir einen Vortrag über Klimawandel und Rechte bei den Vielen in Berlin gehalten haben…
taz: … einem Netzwerk aus bundesweit inzwischen mehreren Tausend Kulturinstitutionen und -aktivist:innen für die Kunstfreiheit und gegen den zunehmenden Rechtsextremismus.
Tschirner: Und da gab es richtig Proteste. Die einen waren empört, die großen Opernhäuser zum Beispiel, weil sie sich zwar gegen rechts engagieren wollen, das aber für sie in keinem Zusammenhang mit anderen Themen, wie dem Klimawandel steht. Die anderen waren empört, dass wir so ausführlich auch die Rechten selbst zu Wort kommen lassen. Wir zitieren sie ein bisschen gemein, nämlich so, dass man am Anfang gar nicht denkt, das sind Rechte. Da waren auch wieder Leute empört und haben gesagt: Wollt ihr eine Werbeveranstaltung für Rechte machen? Wir haben das zuletzt auch in den Sophiensaelen gespielt, sozusagen am Hotspot des Linksliberalen. Und das ging sehr gut, weil die Leute fühlen sie sich da schon mitgemeint und getroffen und können dann schon auch über sich lachen.
Musiol: Sowohl „Bitter Fields“ als auch die jetzige Arbeit sind ja Denkangebote. Angebote sich mit seinen eigenen Widersprüchen auseinanderzusetzen und so ein bisschen aus dem Sessel hochgerüttelt zu werden. Auch, weil wir keine Lösungen anbieten, sondern versuchen Lösungen gemeinsam in den Gesprächen danach anzudenken und zu diskutieren.
taz: Habt ihr denn das Gefühl, dass Menschen da anders wieder rausgehen, als sie reingekommen waren? Dass etwas in Bewegung kommen kann?
Tschirner: Schwer zu sagen. Wir hoffen natürlich. Bei „Bitter Fields“ ging es auch stark um den Konflikt Stadt–Land. Dazu gibt es auch im Publikum sehr unterschiedliche Positionen und es reden Leute miteinander, die das normalerweise nicht tun würden; auch dadurch, dass sie ein bisschen aufgewühlt oder angestachelt oder provoziert sind.
Musiol: Originalzitat: „Jetzt bin ich aber verärgert.“
taz: Es geht also um Unterhaltung, aber nicht nur?
Tschirner: Die Frage ist ja, wovon fühlt man sich unterhalten? Ich finde, Denken wirkt unterhaltsam. Ich mag es, wenn mir Leute Widersprüche vorführen – gedanklich. Ich bin oft gelangweilt, wenn ich in einem Stück sitze und mir wird irgendeine These ausgebreitet, und ich weiß: Aha, das geht jetzt noch 80 Minuten so weiter. Man weiß, ach so, ja, so läuft das. Ich finde Denken oder gedankliche Auseinandersetzung, wenn sie intelligent und witzig geführt werden, sehr unterhaltsam. Da würde ich gar keinen Widerspruch sehen.
taz: Ich könnte mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die bei der bei denen Unterhaltung stark darauf fußt, dass sie zustimmen können, darauf, dass sie etwas genauso sehen, wie die auf der Bühne. Muss man bestimmte Voraussetzungen mitbringen, um an der Herausforderung auch das Unterhaltsame zu finden?
Musiol: Kann sein. Ich würde aber auch sagen, dass im Theater eine Lust entstehen kann, gemeinsam Widersprüche auszuhalten. Und das ist eine große Qualität.
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