Dramaturgin über „Nachbarşchaften“: „Diverse Einwanderungsgeschichten“

Geschichten und Diskussionen übers Zusammenleben mit Einwanderungsgesellschaften: das Festival „Nachbarşchaften – Komşuluklar“ am Thalia Gauß.

Ein Mann steht vor einem viereckigen Glaskasten, in dem eine Gefängniszelle nachgebaut ist

Der türkische Journalist Can Dündar vor dem Nachbau der Gefängniszelle, in der er selbst saß Foto: Ute Langkafel

taz: Frau Lochte, Sie veranstalten das Festival „Nachbarşchaften – Komşuluklar“ nun zum zweiten Mal. Was ist die Idee dahinter?

Julia Lochte: Ein Anlass war das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei vor 60 Jahren. Zu der Zeit kamen die ersten sogenannten „Gastarbeiter:innen“ aus der Türkei, in späteren Einwanderungswellen aber auch zum Beispiel politische Flüchtlinge, zu denen auch der türkische Journalist und Autor Can Dündar gehört, der das Festival eröffnet. Es gibt also eine lange Geschichte des Zusammenlebens zwischen türkischen Mi­gran­t:in­nen und dem Einwanderungsland Deutschland. Altona ist insbesondere von diesem Zusammenleben geprägt. Hier ist auch das Thalia Gauß beheimatet, wo das Festival stattfinden wird.

Warum steht „Nachbarşchaften“ im Plural?

Der Name ist ganz bewusst im Plural gewählt, um das Zusammenleben mit den verschiedensten Einwanderungsgesellschaften und deren Geschichten zu thematisieren. Diese möchten wir mit künstlerischen Positionen beleuchten.

Zum Beispiel mit dem Stück „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sasha Marianna Salzmann?

Genau. Das ist eben auch eine Einwanderungsgeschichte, die speziell die Beziehungen von Müttern und Töchtern und deren Kommunikation in den Blick nimmt. Das Stück behandelt unterschiedliche Perspektiven der Einwanderung, die von der Generation abhängen. Da sind auf der einen Seite die Mütter, die ihr Leben in der ehemaligen Sowjetunion, in diesem Fall auf dem Gebiet der Ukraine, und in der postsowjetischen Umbruchszeit verbracht haben. Auf der anderen Seite sind die Töchter, die den Großteil ihres Lebens in Deutschland aufgewachsen sind, sich aber mit dieser Geschichte auch konfrontieren wollen.

geboren 1965 in Hamburg, ist seit der Spielzeit 2015/16 Chefdramaturgin am Thalia Theater.

Spielt das Stück auch auf die aktuelle Situation in der Ukraine an?

Der Krieg im Donbass existiert ja bereits länger – seit 2014. Der Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine war während der ersten Planungen der Uraufführung noch nicht aktuell. Die Au­to­r:in hat das auch bei der Bühnenfassung mitbedacht, auch wenn sie natürlich nicht alles umgeschrieben hat. Aber es gibt natürlich viele Bezüge und die Inszenierung erhält angesichts des fortdauernden russischen Angriffskrieges einen anderen Resonanzraum.

Zur Eröffnung zeigen Sie Can Dündars „SİLİVRİ. Prison of thought / museum of small things“. Worum geht es da?

Die dreiteilige Ausstellung ist von dem türkischen Journalisten und Autor Can Dündar, wobei Hakan Savaş Mican den dritten Teil „Museum of small things“ mit ihm zusammen kreiert hat. Sie bleibt auch über die ganze Zeit des Festivals. Can Dündar wurde selbst im Gefängnis Silivri für mehrere Monate gefangen gehalten, wie viele Oppositionelle und Journalisten. Der Titel „Prison of thoughts“ spielt auch darauf an, dass die Gedanken all dieser Inhaftierten sich nicht wegsperren lassen und der Protest weitergeht.

Und man kann dieses Gefängnis selbst besuchen?

Mit einer VR-Brille können die Zuschauer den Weg zu seiner Zelle nachgehen, die als maßstabsgetreuer Nachbau den zweiten Teil der Ausstellung darstellt. Darauf aufbauend folgt die Videoinstallation „Museum of Small Things“, wo Interviews mit Gefangenen von Silivri gezeigt werden, die unter anderem über kleinere Gegenstände erzählen, wie zum Beispiel eine Schnecke, die sich in eine Zelle verirrt hat. Diese Objekte sind als Teil der Videoinstallation in der Garage des Thalia Gauß ausgestellt.

Was wird noch Teil des Festivals sein?

Da wäre zum Beispiel Fatma Aydemirs „Dschinns“. Dabei handelt es sich auch um eine Mehrgenerationengeschichte, die Parallelen zu der Aufführung von Salzmann hat, aber diesmal in Bezug zu einer Familie aus der Türkei. Dort wird in einer Rückschau die Einwanderungsgeschichte einzelner Familienmitglieder und die intergenerationelle Kommunikation zum Thema gemacht. Die Geschichte greift auch das rassistische Klima der 90er-Jahre auf. Auch zeigen wir ein Gastspiel aus Frankfurt, „NSU 2.0“ von Nuran David Çalış. Das ist ein dokumentarisches Stück, das als Triptychon rechtsextremer Gewalt den Bogen spannt vom NSU-Komplex über den Mord an Lübke bis zu dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau.

Geht es bei dem Stück auch darum, der deutschen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten?

Transkulturelles Festival „Nachbarșchaften – Komșuluklar“: 27. Oktober bis 6. November, Hamburg, Thalia Gauß

Eröffnung mit Can Dündar: 27. Oktober, 19 Uhr

Infos und Programm: https://t1p.de/eywlt

Genau, es geht in dem Fall auch darum, zu gucken, wo sind da eigentlich Netzwerke? Wie werden die Anschläge aufgearbeitet, wo gibt es blinde Flecken auf Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Sicherheitsbehörden? Nicht zuletzt, seit sich herausgestellt hat, dass es rassistische Chats in der Frankfurter Polizei gegeben hat, nur um eins von vielen Beispielen zu nennen.

Es gibt nicht nur Theater, sondern auch Diskussionen. Worüber?

Es ist uns wichtig, dass wir nicht nur zu Theateraufführungen einladen, sondern dass es auch Diskussionsformate und Gespräche, aber auch Konzerte gibt. Gleich zu Beginn des Festivals spielt zum Beispiel Ozan Ata Canani – im Anschluss an den preisgekrönten Dokumentarfilm „Liebe, D-Mark und Tod“, der unter anderem Canani porträtiert. Er verbindet türkische Musikrichtungen mit Texten, die er unter anderem zu seinem Leben in Deutschland geschrieben hat und zu den Schwierigkeiten, die es gab.

Was empfehlen Sie noch?

Am Schluss des Festivals gibt es ein Konzert mit Nakriz, das ist eine in der Diaspora lebende syrische Band, die jetzt in Deutschland arbeitet. Sie machen eine Art Fusion aus verschiedenen Elektro-Beats und arabischen Instrumenten, die sie auch live zu ihren DJ-Sets einsetzten. Es war uns auch ein Anliegen, die Musiktradition, also die Diversität von Einwanderungsgeschichten zu zeigen. Das transnationale „All Das“-Kollektiv zeigt mit „Sokak oder die kunst darin straßenkatzen nicht aufzuwecken“ zum Beispiel einen inszenierten Spaziergang durch Altona. Da geht das Publikum zusammen mit den Schau­spie­le­r:in­nen durch die Straßen Altonas und hört über Kopfhörer live die Texte von Nail Doğan – der als Autor verschiedene Preise gewonnen hat, unter anderem auch den taz-Publikumspreis beim Open Mike 2021.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.