Neuer Roman von Sasha Marianna Salzmann: Mütter, Töchter, Weltgeschichte

Au­to­r:in Sasha Marianna Salzmann erzählt vom Leben in der Sowjetunion – und von den Abgründen, die die emigrierten Nachgeborenen davon trennt.

Straße mit Kopfsteinpflaster in der Ukraine im Gegenlicht

Hinwendung zu den Erfahrungen der Eltern: Alltag in der Ukraine, 1989 Foto: Peter Turnley/Corbis/getty images

Gut fünfzig Seiten nachdem Michail Gor­ba­tschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR gewählt worden ist, wird in Sasha Marianna Salzmanns zweitem Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ Lena schwanger. Groß und klein. Weltgeschichte und Lebensgeschichte.

Michail Gorbatschow selbst wird in dem Buch nicht direkt vorkommen, doch die welthistorischen Umwälzungen, die mit seinem Namen verbunden sind, schon. Auf den Partys „dozierten“ die jungen Männer „über die politischen Veränderungen, die durch Gorbatschow angestoßen worden waren, Gorbatschow hier, Gorbatschow da, sie sprachen von den Möglichkeiten, die sich jetzt eröffneten, sie trugen alle Bluejeans“.

Und parallel zu den „Businessmännern“ tauchen Wellblechhütten mit armen Menschen in den Großstädten auf; während sich vorher alle Sowjetbürger als Internationalisten verstanden haben, wenigstens offiziell, definieren sich die Menschen bald durch nationale Zugehörigkeiten. Wo es früher Sowjets gab, gibt es plötzlich Tschetschenen, Ukrainer, Russen. Der Zerfall der Sowjetunion bildet den Hintergrund der ersten Hälfte dieses Romans.

Lena steht im Vordergrund dieser Hälfte. Beschrieben wird ihre Kindheit und ihr weiteres Leben in Dnepropetrowsk bis zu ihrer Ausreise mit Mann und Tochter nach Deutschland Mitte der neunziger Jahre. In den siebziger Jahren gibt es enge Wohnungen und Sommerlager als junge Pionierin. Es gibt Wochen in Sotschi am Schwarzen Meer, unter den Haselnussbäumen der schweigsamen Großmutter.

Sasha Marianna Salzmann: „Im Menschen muss alles herrlich sein“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 384 Seiten, 24 Euro

Und es gibt ein Verhängnis: Lenas Mutter erkrankt schwer und langwierig. Lena will Ärztin werden, natürlich auch, um ihrer Mutter zu helfen. Doch im Gesundheitssystem gibt es viel Korruption, zu Arztbesuchen muss man stets Umschläge mit Bargeld mitnehmen. Lena wird nicht rechtzeitig mit ihrem Studium fertig. Die Mutter stirbt. Auf ihrer Totenfeier reden alle über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.

Der Roman splittert auf

Lange Zeit ist das ein Roman über die große Weltgeschichte und ihren Niederschlag in einem individuellen Leben. Lena verliebt sich leidenschaftlich in einen Tschetschenen, der sich als unzuverlässig erweist, und Daniel verliebt sich in sie, Daniel, den sie schließlich heiratet und mit dem sie eine Tochter bekommt.

Daniel ist Jude. Die „Judenfrage“ wird wieder virulent, Daniel fühlt sich in der Ukraine nicht mehr sicher. Obwohl Lena sich zuerst sträubt, wandert sie mit ihm und ihrer Tochter nach Deutschland aus. Ein Frauenleben mit vielen Zwängen.

Die zweite Hälfte des Romans ist dann ganz anders, nicht so einheitlich und chronologisch erzählt. Jetzt sind wir in Deutschland, in Berlin und Jena, in der Jetztzeit, und der Roman splittert auf. Lenas fünfzigster Geburtstag bildet den Zusammenhalt dieser Szenen, doch nun geht es nicht um ein einzelnes Leben, sondern um Beziehungen untereinander oder besser um Leben, die nebeneinanderher geführt werden.

Ein hustendes Baby

Jetzt sind es vor allem vier Frauenleben. Wie traurig und menschlich fatal sich eine Emigration nach Deutschland anfühlen kann, wird anhand von Lenas Freundin Tatjana und ihrer Tochter Nina im Rückblick geschildert. Und Edi, Lenas Tochter, die wir im ersten Teil als hustendes, schwer krankes Baby kennengelernt haben, bekommt in diesem zweiten Teil eine eigene Perspektive.

Sasha Marianna Salzmann führt sie ein als Teil der jungen Berliner Boheme. Edi ist lesbisch. Sie geht in Clubs. Sie hat eine Volontariatsstelle als Journalistin bekommen, doch privat strauchelt sie durchs Leben und vernachlässigt ihre Wohnung. „Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal, „das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für alle, die noch tanken mussten.“

Nur weiß Edi, wie so viele in Berlin, halt nicht recht, wohin. An die Stelle der Enge und der Zwänge ihrer Mutter sind bei ihr die Freuden und Mühen des Sichausprobierens getreten.

Perestroika-Zombies

Der dramaturgische Knackpunkt dieses Teils ist dann: Von ihrer Herkunft und der Geschichte ihrer Eltern und überhaupt der Emigranten aus der ehemaligen UdSSR will Edi gar nichts wissen. Und erst will sie auch gar nicht zur Geburtstagsfeier ihrer Mutter nach Jena fahren. „Niemals, niemals würde sie über sie schreiben. Over my dead body, wie eine ihrer Freundinnen gerne sagte. Diese Geschichten von all diesen ‚ihren Leuten‘ waren ihr persönliches Kryptonit.“ Etwas später fallen Bezeichnungen wie „diktaturgeschädigte Jammerlappen“ und „Perestroika-Zombies“. Schließlich fährt sie aber doch.

Dieser zweite Teil handelt von nicht ankommenden Erzählversuchen und zersplitterten Erzählzusammenhängen. Daniel, der Vater, erzählt ständig halb lustige jüdische Witze. Und die exsowjetische Emigranten­community in Deutschland flüchtet sich, was die Vergangenheit betrifft, in Sentimentalitäten und Illusionen.

Sie wissen gar nicht und werden auch nie erfahren, dass sie völlig unterschiedliche Leben gelebt haben

In einem in der Ich-Perspektive geschriebenen, fast somnambul hellsichtigen kurzen Abschnitt, der zwischen den beiden Teilen des Romans steht, ist von „Phantomschmerzen“ die Rede: „Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“

Und etwas weiter: „Wenn ich mir die Erinnerungstexte der ehemaligen So­wjet­men­schen anschaue, habe ich das Gefühl, sie haben nie miteinander gesprochen und wissen gar nicht, dass […] sie zum Teil völlig unterschiedliche Leben gelebt haben in einem Land, von dem es hieß, es gäbe nur den einen Weg, nur eine Möglichkeit. Und sie werden es auch nie erfahren, weil sie miteinander nur in Zitaten von Schriftstellern reden, die vor Hunderten von Jahren gestorben sind.“

Böse desillusionierte Blicke

Es sind teils böse desillu­sio­nierte Blicke, die die Generation der Töchter auf ihre in den inneren Nachbeben der welthistorischen Umbrüche hilflos verharrenden Eltern wirft. Ein schwergewichtiger Satz kann einem einfallen: The storyline is broken. Tatsächlich erzählt dieser Roman viel darüber, wie tief die Abgründe zwischen den Generationen sind und wie schwer es ist, über die Brüche der Weltgeschichte hinweg kontinuierliche Lebens- und Familiengeschichten zu konstruieren.

Da sind nicht nur Schweigen und Verbrämungen zu überwinden. Die Zeitzeugen müssen auch erst einmal dazu gebracht werden, sich realistisch zu erinnern und eine Sprache für die eigenen Erfahrungen zu finden.

Wenn man von diesem Punkt aus auf den ersten Teil des Romans zurückblickt, beginnt er zu schillern. Als Erzählung über den Zerfall der Sowjetunion wirkt er vielleicht etwas flach, was vor allem daran liegt, dass die korrupten Apparatschiks und kapitalistischen Profiteure im Wesentlichen unausgeleuchtet bleiben und es so erscheint, als würden die Veränderungen von außen über die Gesellschaft kommen. Doch das ist gar nicht der Punkt.

Helden wie Morosow

Der Punkt ist vielmehr, dass Sasha Marianna Salzmann als Autorin das unternimmt, was ihre Edi-Figur in dem Roman verweigert: Sie wendet sich dem Leben ihrer Elterngeneration zu und macht sich daran, es realistisch zu rekonstruieren, und zwar über die dann im zweiten Teil deutlich gemachten Abstände hinweg.

Lena, die Mutter, ist noch mit solchen Heldengestalten wie ­Pawel Morosow aufgewachsen, der seine eigenen Eltern verriet, die Getreidevorräte vor den Sowjets versteckt hatten. Solche Traditionen erscheinen von heute aus zwar nur noch unverständlich. Doch wenn man von den Leben vor 1989 erzählen will, muss man sie, wie Sasha Marianna Salzmann es auch tut, berücksichtigen.

So lässt sich ihr Roman einerseits einordnen in die vielfältigen Bücher von Er­zäh­le­r*in­nen mit exsowjetischem Hintergrund, seien es Olga Grjasnowa, Dmitrij Kapitelman oder aktuell Yulia Marfutova. Aber man muss ihn andererseits vielleicht auch gar nicht auf das Exsowjetische festlegen. Interessant ist, dass es gerade in diesem Jahr sehr unterschiedliche literarische Ansätze gibt, sich der Familiengeschichte zuzuwenden und das Verhältnis zu den Eltern erzählbar zu machen, von Dilek Güngörs „Vater und ich“ über Monika Helfers „Vati“ oder Henning Ahrens’ „Mitgift“ bis hin sogar zu Christian Krachts „Eurotrash“.

Es scheint, als ob sich deutschsprachige Er­zäh­le­r*in­nen gerade jetzt daranmachen, Peter Weiss’ folgenreichen Titel des „Abschieds von den Eltern“ endgültig zu historisieren und eher von einer Hinwendung zu den Eltern zu erzählen, so schwierig das auch ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.