Drama „Grand Jeté“ in den Kinos: Der Körper als Werkzeug
Im Mittelpunkt des Films „Grand Jeté“ von Isabelle Stever steht eine gebrochene Ballerina. Die beginnt ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Sohn.
In Isabelle Stevers Film „Grand Jeté“ ist das Körperliche der stille Hauptakteur. Mit Wollust, Sinnlichkeit, blanker Triebhaftigkeit oder Sonstigem, das man schnell mit einem Plot assoziiert, der sich mehr für die fleischliche Hülle als den Verstand seiner Figuren interessiert, hat der Film allerdings wenig gemein. Die Physis ist in der katonisch anmutenden Adaption des Romans „Fürsorge“ von Anke Stelling schlichtes Werkzeug.
Und damit etwas, das vor allem einen Nutzen zu erfüllen hat. Etwas, das einzig der Notwendigkeit zu funktionieren unterworfen ist. Folgerichtig sind zunächst nur Körper, ihre Fragmente und Erzeugnisse zu sehen: Ein sehniger Frauenleib gleitet durch das Wasser, dann hält Constantin Campeans stoische Kamera lange auf einen blutgetränkten Fetzen Papier, der im Abfluss einer Toilette treibt.
Kurz darauf fixiert sie den Rücken derselben Frau, beobachtet, wie die Muskeln unter der Haut zu wandern beginnen, wenn sie sich bewegt. Das Gesicht von Nadja (Sarah Nevada Grether) wird erst viel später auftauchen. Vorher noch ist sie zu hören: „Nur der kann nicht, der es zulässt, nicht zu können“, antwortet sie auf das Lamento einer Schülerin, die sich heute nicht im Stande fühlt, Ballett zu tanzen.
„Grand Jeté“ exponiert die Folgen einer solchen Geisteshaltung, ihre Ursachen spielen hingegen eine untergeordnete Rolle. Wiederholt füllen Nadjas wunde, deformierte Füße das Bild. Ihr Hals ist mit Ekzemen übersät, die an Brandlöcher erinnern. Eigentlich muss sie am Stock gehen. Ihr ganzer Körper ist durch die jahrzehntelange Marter vom Werkzeug zur Bürde geworden. Verweigert sich jetzt zu funktionieren.
Dass Nadja nur noch als Tanzlehrerin tätig sein kann, anstatt selbst auf der Bühne zu stehen, kommt einer persönlichen Katastrophe gleich. Als wäre es die einzige logische Antwort darauf, erzählt Isabelle Stevers von der absonderlichen Form der Annäherung zwischen ihr und ihrem Sohn Mario (Emil von Schönfels).
„Grand Jeté“. Regie: Isabelle Stever. Mit Sarah Nevada Grether, Emil von Schönfels u. a. Deutschland 2022, 105 Min.
Genau genommen ist er selbst Folge ihrer Marter. Als ungeplantes Kind in Jugendjahren, zu dem es nur kam, weil die Pille aufgrund ihrer bulimischen Attacken nicht wirkte. Er wuchs bei Großmutter Hanne (Susanne Bredehöft) auf, und weil es bislang keinen regelmäßigen Kontakt gegeben hat, herrscht eine große Distanz zwischen ihnen.
Das ändert sich erst, als sie bei einer Familienfeier aufeinandertreffen und nach anfangs unbeholfenen Annäherungsversuchen entdecken, dass sie ein ähnliches Körpergefühl verbindet. Wie seine Mutter stählt Mario seinen jugendlichen Körper, ist neben der Schule in einem Fitnessstudio tätig. Mehr als das: Wie Nadja nutzt Mario ihn als Werkzeug, um die Zuneigung eines anonymen Publikums zu gewinnen.
In einer besonders eigensinnigen Szene tritt er bei einem Wettbewerb an, bei dem mehrere Männer, nicht mehr als eine Maske tragend, darum konkurrieren, wem es länger gelingt, ein zehn Kilogramm schweres Gewicht am Penis zu tragen. Nadja sitzt dabei im Publikum und wirkt dabei zunächst so, als würde sie den skurrilen Anblick nicht ertragen. Später stellt sich jedoch heraus, dass es sein Auftreten war, das ihr Unbehagen ausgelöst hat. Dass er zu sehr mit dem Publikum kokettiere, mahnt sie ihn. Dass es allerdings den viel mehr liebt, der es ignoriert, rät sie ihm.
Mutter und Sohn kommunizieren mit dem Körper
Von da an ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur vollkommenen Grenzüberschreitung, die im inzestuösen Austausch von Intimität zwischen Mutter und Sohn besteht. In ihm verwenden beide ihren Körper als Werkzeug, nutzen ihn für stumme Kommunikation, um eine Verbindung aufzubauen, die anders nicht möglich scheint.
„Grand Jeté“ bleibt die ganze Zeit über unbeirrbar nüchtern in seiner Erzählweise, unaufgeregt gegenüber dem Tabubruch, der in seinem Zentrum steht. Seine karge Strenge ist es, die über lange Strecken in den Bann zieht. Sie ist es allerdings auch, die jede andere Gefühlsregung gegenüber dem Film als Faszination für seine Kälte verhindert.
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