Filme über Leh­re­nde in Venedig: Wale und Wahlverwandtschaft

Lidokino 6: Der iranische Regisseur Jafar Panahi schreibt einen Brief nach Venedig. Filme von Darren Aronofskys und Rebecca Zlotowski im Wettbewerb.

Nahaufnahme von Brendan Fraser als Charly

Starke Rolle wegen oder trotz Körperprothese? Charlie (Brendan Fraser) in „The Whale“ Foto: A24

Ist das jetzt noch Schauspielkunst oder Pornografie? Man stutzt erst einmal in Darren Aronofskys Wettbewerbsfilm „The Whale“, wenn man dessen Protagonisten Charlie sieht. Hat sich der Schauspieler Brendan Fraser, ohnehin von kräftiger Gestalt, für seine Rolle einen Körper durch heftigen Verzehr zugelegt, der dem Titel des Films alle Ehre macht? Ein bisschen beruhigt es zu lesen, dass die Gestalt seiner Figur durch Prothesen ermöglicht wurde. Man könnte das, was man sieht, durchaus für echt halten. Und was man sieht, ist viel.

Charlie lebt zurückgezogen in einer Wohnung irgendwo in Idaho, gibt am College Onlinekurse für Essayschreiben. Seine Studenten bekommen ihn nie zu Gesicht, die Kamera seines Computers sei kaputt, lautet seine Entschuldigung. Im Verlauf der Handlung bekommt Charlie Besuch von verschiedenen Personen: einem Missionar einer christlichen Endzeitsekte, seiner Freundin Liz (Hong Chau), die ihn pflegt, seiner Tochter und ganz zum Schluss auch von seiner ehemaligen Frau. Die Theaterstückvorlage merkt man dem Film deutlich an, es wirkt wie bei Auftritten und Abgängen auf einer Bühne, wenn jemand an der Tür klopft, kurz bleibt und sich dann wieder verabschiedet.

Da Charlie stark übergewichtig ist, hat seine Gesundheit sehr gelitten. Liz eröffnet ihm, dass er nicht mehr viel Zeit zu leben habe. In den Tagen, die ihm bleiben, will er erneut eine Beziehung zu seiner Tochter aufbauen, die er nicht mehr gesehen hat, seit er seine Familie für seinen Freund verließ.

Dass man für diesen mons­trösen Charlie, der ohne Rollator nicht aus dem Sessel kommt, so viel Gefühl entwickelt, liegt am wuchtigen Spiel Frasers, das sich nicht auf die Körperlichkeit reduzieren lässt. Da diese den Film andererseits dominiert, bleibt die Frage, ob die schauspielerische Wucht, mit der er Charlies Charakter entwickelt, von der leiblichen überlagert wird. Trotzdem fühlte sich der begeisterte Applaus am Ende nicht unverdient an, selbst wenn Restzweifel bleiben.

Kinderwunsch als Hindernis

Weniger Zweifel gibt es bei der französischen Regisseurin Rebecca Zlotowski und ihrem ebenfalls im Wettbewerb laufenden Film „Les enfants des autres“ mit Virginie Efira in der Hauptrolle. Ihre Figur Rachel ist Lehrerin an einer Pariser Schule, Single und ohne Kind. Da sie 40 ist und sich Nachwuchs wünscht, erhofft sie sich von ihrem neuen Freund Ali (Roschdy Zem), der selbst Single ist und schon eine viereinhalbjährige Tochter hat, ein gemeinsames Kind.

Zlotowski baut ein sehr komplexes Geflecht zwischen Rachel, Ali, dessen Tochter Leila und ihrer leiblichen Mutter Alice (Chiara Mastroianni) auf. Hat Rachel anfangs vor allem ihre Not, von Leila als die „Neue“ des Vaters akzeptiert zu werden, wird die unterschiedliche Sicht des Paars auf Rachels Kinderwunsch nach und nach zum eigentlichen Hindernis ihrer Beziehung.

Die unaufgeregte Inszenierung mit vereinzelten dramatischen Zuspitzungen hilft, sich auf die Figuren und die oft minimalen Regungen zwischen ihnen zu konzentrieren, von Zlotowski fein nachzeichnet.

Brief aus dem Gefängnis

Der Wirklichkeit außerhalb des Festivals war am Wochenende das Thema eines Panels gewidmet mit dem Titel „Filmmakers under Attack: Taking Stock, Taking Action“. Dort verlas der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Venedig, Alberto Barbera, einen Brief, den der im Juli verhaftete iranische Regisseur Jafar Panahi aus dem Gefängnis nach Venedig geschickt hatte.

„Wir sind Filmemacher, Leben ist für uns Schaffen“, zitiert ihn der Hollywood Reporter. Da ihre Arbeiten keine Auftragswerke seien, würden sie von einigen Regierungen als Kriminelle betrachtet, weshalb einigen Regisseuren das Filmemachen untersagt worden sei, andere seien ins Exil oder in die Isolation getrieben worden. Trotzdem sei die „Hoffnung, wieder etwas schaffen zu können, „ein Grund zu leben“. Am Freitag wird Panahis „No Bears“ den Wettbewerb auf dem Lido beschließen.

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