Dossier Arabische Revolution: "Scharia meint nicht Hände abhacken"
Wir sind gegen einen religiösen Staat, sagt Abdel Monem Abou el-Fetouh von den Muslimbrüdern. Aber die Scharia soll die wichtigste Quelle des Rechts bleiben.
taz: Herr Abou el-Fetouh, haben Sie sich an den Protesten beteiligt?
Abdel Monem Abou el-Fetouh: Natürlich. Diese Revolution ist die aller Ägypterinnen und Ägypter, besonders der jungen.
Waren Sie von Anfang an dabei?
ABDEL-MONEM ABOU EL-FETOUH 60, Arzt in Kairo, ist einer der Führer der Muslimbruderschaft.
Diese und andere Stimmen aus der arabischen Welt können Sie in der Donnerstagsausgabe, 17. Februar, in der taz auf sechs Seiten lesen. Die Beteiligten des Aufstands in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern sprechen über ihre Ziele, Hoffnungen und Ängste. Am Kiosk oder am E-Kiosk, www.taz.de/ekiosk.
Unsere jüngeren Brüder und Schwestern waren von Anfang an dabei. Wir Führer haben uns, wie die Führer anderer Organisationen, erst später angeschlossen.
...und mit Linken, Liberalen und Christen demonstriert.
Wir Muslimbrüder arbeiten seit den Siebzigern mit verschiedenen politischen Strömungen zusammen. Denn alle Ägypter leiden an den gleichen Problemen: Korruption und Unterdrückung. Und wir alle haben das gleiche Verlangen nach Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt.
Meinen Sie damit das Gleiche wie die Linken und Liberalen?
Wir Muslimbrüder sind für einen demokratischen, gemäßigten und unabhängigen Staat, der die Einheit aller Ägypter berücksichtigt.
Welche Rolle soll die Religion in diesem Staat spielen?
Wir sind gegen einen religiösen Staat. Aber auch ein ziviler Staat sollte die Geografie und die Geschichte dieses Landes respektieren. Die Ägypter sind seit 7.000 Jahren sehr religiöse Menschen. Alle Ägypter, ob Kopten oder Muslime, haben die Religion in ihren Zellen. Auch die Türkei ist ein ziviler Staat, und die AKP ist eine zivile Partei. Aber sie respektiert die religiösen Werte aller.
Dort gibt es aber keine Bestimmung wie Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Scharia als wichtigste Quelle des Rechts definiert. Wollen Sie diesen Artikel ändern?
Das Schlimme an der ägyptischen Verfassung ist das Fehlen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie gibt dem Präsidenten zu viel Macht. Da wollen wir vieles ändern. Der Rest der Verfassung aber ist sehr gut, und wir akzeptieren sie.
Es bleibt also bei der Scharia?
Scharia meint nicht: Hände abhacken. Sie in Europa sollten Ihre Vorstellung von der Scharia an den gemäßigten Muslimen ausrichten, nicht an den Extremisten. Denn im Verständnis der Muslimbruderschaft meint Scharia Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, wie es unser Prophet Mohammed gepredigt hat. Ja, es sind in der Scharia auch Strafen vorgesehen. Aber das Strafrecht sollte vom Parlament beschlossen und von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden.
Sollten Alkohol oder Sex zwischen unverheirateten Menschen erlaubt sein?
Kein Gesetz sollte die individuelle Freiheit eines ägyptischen Staatsbürgers - ob Mann oder Frau - einschränken. Wenn jemand Alkohol trinken will, ist das seine Sache. In Saudi-Arabien ist es Frauen untersagt, das Haus allein zu verlassen. In Frankreich es ist ihnen verboten, ein Kopftuch zu tragen. Beides ist nicht richtig, beides verstößt gegen ihre Freiheiten. Und es ist etwas anderes, ob man Frauen dazu rät, ein Kopftuch zu tragen, oder ob man sie dazu zwingt.
Welche Außenpolitik soll Ägypten in Zukunft verfolgen, zum Beispiel im Hinblick auf Israel?
Wir sollten - auf Grundlage unserer eigenen Interessen - gute Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft pflegen. Bei internationalen Beziehungen ist Einvernehmen anzustreben. Und der Islam wie das internationale Recht sehen vor, dass Abkommen respektiert werden. Aber Abkommen können verändert oder gekündigt werden. Darüber muss jedoch ein frei gewähltes Parlamente entscheiden.
Welche Abkommen wollen Sie ändern? Den Friedensvertrag mit Israel von 1978?
Wir Muslimbrüder sind nur eine Gruppe von Ägyptern. Es geht nicht darum, was wir wollen, sondern was die Mehrheit der Ägypter will. Wir müssen akzeptieren, was diese Mehrheit fordert oder ablehnt, auch wenn dies unseren Ideen widerspricht.
Und welche sind nun Ihre außenpolitischen Ideen?
Wir brauchen eine unabhängige Außenpolitik, die unseren Interessen entspricht, nicht dem Interesse Amerikas oder anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Desaströse Lage in der Ukraine
Kyjiws Wunschzettel bleibt im dritten Kriegswinter unerfüllt
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt