Dokumentation „Surviving R. Kelly“: Das #MeToo der Musikbranche
Seit Jahrzehnten werden dem R’n’B-Sänger R. Kelly sexueller Missbrauch und Pädophilie vorgeworfen. Jetzt kommen Betroffene zu Wort.
Jerhonda Pace ist mit ihren Erfahrungen nicht alleine. Mehrere Frauen werfen in der kürzlich erschienen Doku-Serie „Surviving R. Kelly“ dem R’n’B-Sänger, der vielen wohl vor allem durch seinen Hit „I Believe I Can Fly“ (1998) bekannt ist, verschiedene Formen des Missbrauchs vor. Das beginnt mit der illegalen Heirat zwischen dem damals 27-Jährigen und der 15-jährigen Sängerin Aaliyah. Auf der Urkunde wurde sie als 18 eingetragen, als das nach wenigen Monaten öffentlich wird, wird die Ehe annulliert.
Immer wieder haben Frauen ihn verklagt, weil er mit ihnen Sex hatte, als sie minderjährig waren. Sie sind Backgroundsängerinnen oder -tänzerinnen, Mädchen aus armen Verhältnissen, die sich mit dem Musiker einließen, weil sie auf eine große Karriere hofften. Es ist ein Muster, das sich durchzieht. Sie alle sind Women of Color, die meisten haben R. Kelly kennengelernt, als sie minderjährig waren. Verurteilt wurde R. Kelly nicht – alle Anschuldigungen wurden außergerichtlich mit Geldzahlungen geklärt. Doch ist die Gesellschaft jetzt, gut ein Jahr nach #MeToo, bereit, sich mit R. Kelly auseinanderzusetzen?
Seit den 90er Jahren soll Kelly seine Berühmtheit, sein Geld und seinen Einfluss genutzt haben, um Sex mit Minderjährigen zu haben und Frauen psychisch und physisch zu missbrauchen. Aktuell gibt es Vorwürfe, dass Kelly eine Art „Sex-Kult“ pflegt, in dem er junge Mädchen und Frauen als „Sklavinnen“ halten soll. Dies wurde im Sommer 2017 in Form einer Recherche von Buzzfeed öffentlich. Auch in „Surviving R. Kelly“ kommen verschiedene Eltern zu Wort, die ihre Kinder seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Kelly streitet alle erhobenen Vorwürfe gegen ihn ab. Die sechsteilige Doku lief Anfang Januar beim US-amerikanischen Fernsehsender Lifetime, im Mai wird sie in Deutschland auf dem Pay-TV-Kanal A&E ausgestrahlt.
Verhaftet wegen Kinderpornografie
Bis heute wurde der R’n’B-Star für kein Verbrechen verurteilt und seine Karriere hat unter den Vorwürfen nie merklich gelitten – mit mehr als 150 Millionen verkauften Tonträgern zählt er zu den erfolgreichsten Musikern weltweit. 2002 wurde R. Kelly zum ersten Mal verhaftet wegen Kinderpornografie. Ein Video war aufgetaucht, in dem der Sänger angeblich beim Sex mit einer 14-Jährigen zu sehen war. Sechs Jahre später wurde er im Prozess freigesprochen, da er und das Mädchen aussagten, es seien nicht sie in dem Video. Verwandte und Freund*innen identifizierten jedoch die beiden.
Das Video wurde als VHS auf dem freien Markt verkauft, es gab Medienberichte, die Branche wusste Bescheid, doch Konsequenzen gab es keine. Stattdessen sang der Musiker im gleichen Jahr bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in Salt Lake City. Kurz nach seiner zweiten Verhaftung, erneut wegen Kinderpornografie, im Jahr 2003 brachte er den Song „Ignition“ auf den Markt, der zum Welterfolg wurde. Zum Prozess kam es nach seiner zweiten Verhaftung nicht.
Welche Strukturen das Verhalten R. Kellys begünstigt haben, ist kein zentrales Thema der Dokumentation. „Surviving R. Kelly“ stellt die Überlebenden in den Vordergrund, die zum Teil erstmals von ihren Erfahrungen erzählen. Doch ohne Mitwisser*innen und Mittäter*innen könnte R. Kelly nicht über solch einen langen Zeitraum weitermachen.
„Er musste Helfer haben“, sagt auch seine Ex-Frau Andrea Lee. Und die hatte er. Unter anderem ist da sein Bruder, der feststellt: „Ja, er mag jüngere Frauen, aber das ist kein Problem.“ Und er ist nicht der Einzige, der wegschaut. Sein ehemaliger Assistent Demetrius Smith und ein anderer Mitarbeiter outen sich als Mitwisser und Unterstützer – sie sagen, dass sie ihre Taten von damals heute bereuen.
Doch warum interessierte sich lange Zeit niemand für die Vorwürfe gegen R. Kelly? Eine Frage, mit der sich auch die Doku beschäftigt. Autorin Mikki Kendall hat darauf eine Antwort: „Die Leute haben mitbekommen, was passiert ist. Aber es war ihnen egal, weil wir schwarz sind.“ Und auch Chance the Rapper bestätigt das aus eigener Erfahrung: „Ich habe den Geschichten keine Beachtung geschenkt, weil es um schwarze Frauen ging.“ Studien unterstützen diese Annahmen, 2017 fand die Georgetown Law heraus, dass Erwachsene finden, schwarze Mädchen bräuchten weniger Schutz als weiße Mädchen.
Kampagnen im Netz
Doch seit die Doku ausgestrahlt wurde, tut sich etwas. Als Produzentin dream hampton auf der Suche nach Prominenten war, die bei der Doku mitwirken möchten, war John Legend einer der wenigen, der zusagte. Laut hampton waren Künstler*innen, wie Jay-Z oder Erykah Badu, nicht bereit, vor der Kamera zu sprechen. Doch jetzt distanzieren sich immer mehr Musiker*innen von dem R’n’B-Weltstar.
So entschuldigte sich vergangene Woche Lady Gaga für die Zusammenarbeit mit R. Kelly und will den gemeinsamen Song „Do What U Want“ von allen Streamingdiensten entfernen lassen. Große Radiosender verkünden, dass sie seine Musik nicht mehr spielen wollen, Konzerte von ihm werden abgesagt, und zuletzt überraschte die Nachricht, dass sein Musiklabel RCA Records, das zum Konzern Sony Music gehört, nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten will.
Das alles ist auch der Graswurzelbewegung #MuteRKelly zu verdanken, die 2017 von der #MeToo-Initiatorin Tarana Burke und Oronike Odeleye ins Leben gerufen wurde. Sie suchten das Gespräch mit Szenegrößen der Musikindustrie, demonstrierten und organisierten Kampagnen im Netz – mit Erfolg. Die jetzigen Konsequenzen zeigen, dass #MeToo und #TimesUp etwas verändert haben, sie haben die Gesellschaft für eine Debatte geöffnet. Nachdem #MeToo hauptsächlich von Geschichten weißer Frauen dominiert wurde, wird die Debatte um R. Kelly nun von vielen als der #MeToo-Moment der schwarzen Frauen bezeichnet.
Doch das ist nur die eine Seite der Geschichte. Nur wenige Tage nach Veröffentlichung der Doku haben sich die Klickzahlen seiner Songs bei Streaming-Anbietern verdoppelt – von 870.000 auf 1,7 Millionen pro Tag. Im Mai hatte Spotify die Musik von R. Kelly aus allen Spotify-Playlisten genommen. Doch nach nur drei Wochen nahmen sie ihre Policy, mit der „hasserfüllte Inhalte“ nicht gefördert werden sollten, wieder zurück. Und noch immer hält die Musikindustrie an dem R’n’B-Star fest.
Großes Geld
So finden in Deutschland in den kommenden Monaten noch Konzerte von Kelly statt, im April soll er in Ludwigsburg sowie in Hamburg auftreten. Auf Anfrage der taz, ob es Überlegungen gäbe, die Konzerte abzusagen, reagierten die Veranstalter nicht, und bis heute stehen die Tickets zum Kauf bereit. Allein für das Konzert in Ludwigsburg interessieren sich über 5.000 Menschen bei Facebook.
Auch in Deutschland regt sich erster Protest. Unter dem #RKellyStummschalten gibt seit Anfang der Woche eine Petition, die dafür sorgen will, dass die beiden angekündigten Konzerte abgesagt werden. Bisher haben knapp 2.000 Menschen sie unterschrieben.
Während die Opfer jahrelang nicht gehört wurden und keine Gerechtigkeit erfahren, verdient R. Kelly weiterhin großes Geld mit seiner Musik. Auch ohne bisherige Verurteilung sind viele der Vorwürfe durch Recherchen, unter anderem von Buzzfeed, dem New Yorker oder der Chicago Sun-Times, Gerichtsunterlagen, Zeugenaussagen und Videos belegt.
Doch was die Betroffenen brauchen, ist ein fairer Gerichtsprozess. Das könnte jetzt passieren. Staatsanwälte aus Chicago und Atlanta haben nach der Ausstrahlung der Doku die Ermittlungen zu den Anschuldigungen der Pädophilie und sexueller Übergriffe durch den Sänger aufgenommen, Sie rufen Betroffene und Zeug*innen auf, sich bei ihnen zu melden. Denn auch wenn es 20 Jahre zu spät ist, werden die Überlebenden jetzt endlich gehört.
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