Dokumentarfilm „Tag der Befreiung“: Bilder, die für immer bleiben
Christian Grasses Interview-Collage schaut auf das Kriegsende in Hamburg. Der Film verdichtet die Perspektiven von 20 Zeitzeug*innen.

„Ich kann nicht durch die Straßen gehen ohne diese Bilder vor Augen zu haben… 80 Jahre nach diesem Elend!“ sagt Jürgen Paulsen und dabei weint er. Er erzählt von seinen Erinnerungen als 11jähriger im Hamburg von 1945, als kaum ein Haus in der Stadt heil geblieben war und Leichen in den Straßen lagen.
Paulsen ist einer von 20 Zeitzeug*innen, die der Hamburger Filmchronist Christian Grasse für seinen Dokumentarfilm „Tag der Befreiung. Das Kriegsende in Hamburg“ interviewt hat. Sie erzählen davon, was sie als Jugendliche in dieser Zeit erlebt haben, in der für einige die Verfolgung durch die Nazis zu Ende ging während andere noch im letzten Aufgebot der Hitlerjugend gegen die Alliierten kämpften. „Wir haben uns nie als Kanonenfutter gesehen – ich war glücklich, dass ich jetzt Soldat war – mit 15“, erinnert sich Ernst Bittcher. Das macht deutlich, wie komplex und widersprüchlich die Empfindungen der jungen Menschen in den letzten Kriegstagen waren.
Christian Grasse interviewt seit zwölf Jahren Zeitzeug*innen zu ihren Erinnerungen an die Zeit zwischen dem Ende der Weimarer Republik und dem Ende des zweiten Weltkriegs. „Tag der Befreiung. Das Kriegsende in Hamburg“ ist eines der Einzelwerke dieses mit über 300 gefilmten Interviews monumentalen Projekts.
Im Vergleich zu seinem Film „Im Gedächtnis einer Stadt – Operation Gomorha“ über den Tag des schwersten Luftangriffs auf Hamburg ist diese zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung produzierte Dokumentation mit 43 Minuten eher kurz. Aber die Aussagen der Zeitzeug*innen sind so verdichtet und geschickt montiert, dass der Film dennoch eine epische Größe hat. Denn sie alle lebten in dieser Zeit unter extremen Umständen.
„Tag der Befreiung. Das Kriegsende in Hamburg“, Metropolis, Hamburg, 6.8., 19.00 Uhr
Der eine musste ansehen wie ein Schulkamerad starb. Andere erzählen vom Hunger und der Angst. Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano erzählt, dass auf dem Todesmarsch der KZ-Insassen von Ravensbrück plötzlich die Bewacher von der SS einander zuflüsterten, dass jetzt nicht mehr geschossen werden sollte und kurz danach russische und amerikanische Soldaten sich vor ihren Augen umarmten. Für einen anderen war der Krieg zu Ende, als er im Radio nicht mehr die Marschmusik des deutschen Reichssender sondern „Pomp & Circumstance“ von Edgar Elgar und eine Ansage auf Englisch hörte.
Grasse hat keine Kreuze hinter den Namen seiner inzwischen verstorbenen Interviewpartner*innen gesetzt – es wären wohl zu viele geworden. Aber bei seinen prominenten Gesprächspartner*innen wird man daran erinnert, dass sie nicht mehr leben.
So starb der Schauspieler Günther Lamprecht im Jahr 2022. Die Kolumnistin Peggy Parnass und die Schwarze Sängerin Marie Nejar wurden im Laufe dieses Jahres begraben. „Ich wäre ein Nazikind gewesen“ sagt Nejar in die Kamera. Doch als sie sich beim Bund deutscher Mädel meldet, hat man sie sofort rausgeworfen. Und als Peggy Parnass vom Tod ihrer Eltern im KZ erfuhr, sagte jemand zu ihr: „Sei doch froh – zwei Juden weniger!“
Der Film ist eine Abfolge von solchen schrecklichen Erinnerungen und er wäre kaum erträglich, wenn Grasse nicht ein paar Kontrapunkte zu ihnen gesetzt hätte. So hat er auch Schüler und Schüler*innen von zwei Hamburger Gymnasium zu ihren Reaktionen auf die Erinnerungen der Zeitzeugen befragt. Interessant daran ist, dass sich hier die Gesichter derer, die während der Aufnahmen zwischen 80 und 103 Jahre alt waren mit denen von Hamburger*innen vermischen, die heute so jung sind wie sie damals.
Als eine Montage von Interviews besteht der Film fast nur aus sprechenden Köpfen. Doch Grasse sorgt mit sparsam eingesetzten Archivaufnahmen für optische Abwechslung. Dabei hat er neben den Bildern von Ruinen, befreiten KZ-Häftlingen und dem Marsch deutscher Soldaten in die Gefangenschaft für den Schluss auch eine friedvolle Einstellung gefunden. Da spielen Kinder in den Trümmern von Hamburg.
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