Dokumentarfilm „One Year in Germany“: Kulturschock mit Wärmflasche
In „One Year in Germany“ haben Christian Weinert und Ferdinand Carrière vier Afrikaner*innen begleitet, die für ein Freiwilligenjahr in Deutschland lebten.
Für Agnes ist es schwer zu begreifen, wie wild die Kinder in dem Hamburger Kindergarten, in dem sie arbeitet, herumtoben dürfen. In Tansania wäre da längst „der Stock gebraucht“ worden. Adele versteht nicht, warum in Kassel so viele alte Menschen leben – zuhause in Afrika sind überall Kinder. Und Christian aus Kamerun fühlt, als er im November in Deutschland aus dem Flugzeug steigt, den Hauch der kalten Luft auf seinem Gesicht – so etwas hat der 28-Jährige noch nie zuvor gespürt.
Die drei Frauen und der Mann sind 25 bis 28 Jahre alt und nach Deutschland gereist, um dort in Hamburg und in Kassel ein Jahr lang im Freiwilligendienst zu arbeiten. Dass junge Deutsche dies in Afrika tun, ist bekannt, aber es gibt das Angebot auch in die andere Richtung: „Süd-Nord“ ist der Begriff dafür.
Die beiden deutschen Filmemacher Christian Weinert und Ferdinand Carrière haben die Vier das Jahr lang mit der Kamera begleitet – ohne ein technisches Team. Die beiden haben Regie, Kamera und Ton gemacht, und es so geschafft, den Film mit einem Minimalst-Budget von 34.000 Euro fertigzustellen. Und dabei ist eine Reise nach Tansania eingerechnet, denn die drei Frauen zeigt der Film auch in ihrer Heimat, beim Abschied und auf der Reise.
Dabei stellt sich heraus, dass das Prinzip eines Freiwilligenjahres in Afrika weitgehend unbekannt ist und Glorias Freunde überhaupt nicht verstehen können, warum sie in Deutschland arbeiten will, obwohl sie kein Geld dafür bekommt. Hauptsache, sie bringt ihnen Smartphones und Laptops als Geschenke mit. Vor der Abfahrt wird noch schnell ein Selfie mit einer freilaufenden Giraffe im Hintergrund gemacht .
Und wie sie das Deutschland des Jahres 2017 erleben – wie es also aus einem für Einheimische ungewöhnlichen Blickwinkel gesehen wird – das ist der Reiz dieses Films. In diesem Jahr passiert nichts Dramatisches, es gibt keine Krisen, keine vorzeitigen Abreisen und auch keine rassistischen Übergriffe. Das alltägliche Leben ist schon spannend und anstrengend genug. Und die Filmemacher haben einen Blick dafür, wie sich das uns Selbstverständliche dadurch verändert, dass es von Fremden neu entdeckt wird.
So ist etwa der Glühwein auf dem Weihnachtmarkt für Adele „die beste Erfindung“, die die Deutschen je gemacht haben und Agnes liebt ihre Wärmflasche. Denn der kalte Winter ist für die vier eine böse Überraschung: Sie sind es nicht gewohnt, so viele Kleidungstücke übereinander tragen zu müssen, und da Schwarzhäutige ähnlich empfindlich auf Kälte reagieren wie Weißhäutige auf die Sonne, müssen sie sich umständlich Gesicht und Hände eincremen, bevor sie sich aus dem Haus trauen, da ihre Haut sonst austrocknet.
Emotionales Loch
Erst nach einigen Monaten bekommen die Vier ein Gespür für den Rassismus, mit dem viele Deutsche ihnen begegnen. Da setzten sich in der Hamburger S-Bahn einige nicht auf die freien Plätze neben sie und Gesprächspartner sind oft erstaunt darüber, auf welchem hohem intellektuellen Niveau sie „als Afrikaner“ argumentieren können.
Zwei von ihnen durchlebten die klassischen Stadien einer sogenannten Kulturschock-Kurve. Nach einer Phase der Euphorie fielen sie in ein emotionales Loch, wurden leicht depressiv, langweilten sich und hatten Heimweh. Bei Testvorführungen mit deutschen Freiwilligenhelfern, die ein Jahr in Afrika gearbeitet hatten, konnten diese sich gut in gerade diese Stimmungen einfühlen, weil sie selber ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.
Der Titel „One Year in Germany“ lässt schon erahnen, dass der Film zwar von deutschen Filmemachern, aber nicht unbedingt für ein deutsches Publikum gemacht worden ist. Die Interviews mit den Protagonisten werden auf Englisch geführt, und auch sonst wird erstaunlich wenig Deutsch gesprochen.
"One Year in Germany". Regie: Christian Weinert und Ferdinand Carrière. Deutschland 2018, 83 Min., engl.OmU
Premiere in Hamburg: Abaton, 2. September 2018, 11 Uhr. Die Filmemacher Christian Weinert und Ferdinand Carrière sind zu Gast. Der Eintritt ist frei.
Ab Mitte September ist der Film auf der Website www.globale-perspektiven.de zu sehen.
Die etwa 80 Minuten lange Dokumentation wurde von „Engagement Global“ finanziert, einem öffentlichen deutschen Unternehmen, das „Service für Entwicklungsinitiativen“ bietet. Die Dokumentation soll vor allem als Lehrfilm für zukünftige afrikanische Freiwillige, Austauschstudenten und jene, die diesen in Deutschland helfen sollen, eingesetzt werden.
Dafür ist er von Christian Weinert und Ferdinand Carrière stilsicher und kreativ inszeniert worden. Besonders bei der Filmmusik haben sie sich Mühe gegeben. So endet der Film mit einer jazzigen Version des Hannes-Wader-Liedes „Heute hier, morgen dort“ in englischer Sprache, die extra für den Film eingespielt wurde.
Weinert und Carrière haben vor vier Jahren schon den Film „Blickwechsel“ über deutsche Freiwillige in Afrika gedreht. Dabei wählten sie eine ungewohnte Perspektive, denn statt die jungen Deutschen selber zu befragen, interviewten sie nur Menschen, die sie bei ihren Projekten in Südafrika, Ghana und Gambia erlebten.
Nach der Premiere am Sonntag in Hamburg und Einzelvorstellungen in Berlin und Kassel wird der Film kaum noch auf einer großen Leinwand zu sehen sein. Weinert spricht halb ironisch von einem „Knebelvertrag“, der verhindert, dass er ihn kommerziell vermarktet. Er wird vielleicht noch auf ein paar Festivals gezeigt und dann als Lehrmaterial verwendet. Aber schon in zwei Wochen wird er auch auf der Website globale-perspektiven.de zugänglich gemacht werden.
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