Diskussion um Schuldenbremse: Die Billionen-Euro-Aufgabe
Ökonomen plädieren für eine Reform der Schuldenbremse. Angesichts der nötigen Transformation beurteilen sie Sparen für schädlich.

Laut IMK-Schätzung wird die deutsche Wirtschaft im vergangenen und in diesem Jahr um jeweils 0,3 Prozent schrumpfen. Ende 2024 könnte das Bruttoinlandsprodukt somit wieder auf dem Niveau von 2019 landen, unmittelbar bevor die Coronapandemie ausbrach. Ein Grund für die gegenwärtige Rezession ist, dass die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse verstärkt spart. Insgesamt drücken die staatlichen Sparmaßnahmen die Wirtschaftsleistung laut den Ökonom*innen 2023 um 0,8 Prozent.
Es bestehe die Gefahr, dass sich diese konjunkturellen Tendenzen fortsetzen und verhärten, warnt IMK-Direktor Sebastian Dullien, und private Haushalte und Unternehmen in eine „Stagnationserwartung“ verfallen. Diese könne auf längere Zeit die Wirtschaftsdynamik lähmen, etwa weil private Haushalte Käufe und Unternehmen Investitionen aufschieben. Auch der Arbeitsmarkt könne „kippen“ und die Arbeitslosigkeit deutlich steigen.
Gleichzeitig läuft der Strukturwandel bereits. „Er kann unseren Wohlstand stärken, wenn wir ihn gut gestalten. Er kann unseren Wohlstand in Gefahr bringen, wenn wir ihn nicht angemessen und ausreichend flankieren“, so Dullien. Ersteres brauche jetzt Geld für Investitionen. Letzteres werde die Staatsfinanzen der Zukunft bedrohen.
Die goldene Regel
Dullien dringt deshalb auf eine Reform der Schuldenbremse. Dem Ökonom schwebt eine Ergänzung der Schuldenbremse um eine „goldene Regel“ vor, mit der Investitionen künftig von der Schuldenbremse ausgenommen werden sollen. Diese würde eine Verstetigung öffentlicher Investitionen ermöglichen und gleichzeitig eine Überschuldung vermeiden.
Bereits im Jahr 2019 schätzte das IMK zusammen mit dem Institut der deutschen Wirtschaft den öffentlichen Investitionsstau auf rund 460 Milliarden Euro. Mittlerweile sei er eher größer als kleiner, sagt Dullien. So seien die Investitionskosten im Laufe der Jahre deutlich gestiegen. Auch habe man vor fünf Jahren die Kosten der Dekarbonisierung „unterschätzt“.
Wie hoch der Investitionsbedarf letztlich sein könnte, zeigt eine Berechnung des Handelsblatt Research Institute (HRI). Demnach müssten der Staat, die Privatwirtschaft und die Bürger*innen allein für den klimagerechten Umbau der Energieinfrastruktur bis 2045 zusammen insgesamt 1,1 Billionen Euro in die Hand nehmen. Das ist laut Bericht 65-mal so viel wie die Haushaltslücke, über die die Ampelkoalition Ende des Jahres wochenlang diskutiert hat. Das meiste Geld muss demnach in den Ausbau erneuerbarer Energien fließen, aber unter anderem auch in Stromspeicher und -netze.
Derzeit ist eine Reform der Schuldenbremse jedoch wegen der politischen Kräfteverhältnisse unwahrscheinlich. Das IMK schlägt deswegen als „zweitbeste Lösung“ die Schaffung eines kreditfinanzierten Sondervermögens für Transformationsinvestitionen vor, nach dem Vorbild des 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens der Bundeswehr. Doch auch dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag sowie Bundesrat und somit die Unterstützung von Union und FDP, die sich derzeit beide gegen eine Reform der Schuldenbremse wehren.
Sind neue Schulden für die nötigen Investitionen nicht gewollt oder politisch durchsetzbar, könnte die Bundesregierung zur Finanzierung theoretisch auch ihre Einnahmen erhöhen – etwa in Form eines Klimasoli oder einer Vermögensabgabe. Für Dullien sind solche Steuererhöhungen durchaus diskutabel. Das Jahr 2024 sei dafür aber vermutlich „nicht das geeignetste“, da es von einer Rezession geprägt sein wird und Steuererhöhungen die Wirtschaft zusätzlich auszubremsen drohen.
Vor allem aber wendet das IMK ein: Derzeit weist Deutschland innerhalb der G7-Länder die niedrigste Staatsverschuldung auf, die zudem nahe der Schuldenobergrenze der Europäischen Union in Höhe von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Ein striktes Festhalten an der Schuldenbremse und Unterlassen notwendiger Investitionen sei demnach „absolut widersinnig“.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Gerichtsentscheidung zu Birkenstock
Streit um die Sandale