Historiker über Pastoren in der NS-Zeit: „80 Prozent haben kollaboriert“

Helge-Fabien Hertz hat die Biographien aller evangelischen Pastoren untersucht, die in der NS-Zeit in Schleswig-Holstein gearbeitet haben.

Archivbild: "Deutsche Christen" demonstrieren 1933 vor einer Kirche.

Allseits akzeptiert: Propaganda-Aktion der Deutschen Christen zur Kirchenwahl am 23.7.1933 in Berlin Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0109-502/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

taz: Herr Hertz, wie regimetreu waren Schleswig-Holsteins evangelische Pastoren im Dritten Reich?

Helge-Fabien Hertz: In meinem Promotionsprojekt habe ich bundesweit erstmalig alle Pastoren einer Landeskirche untersucht: 729 schleswig-holsteinische Geistliche. Diese Pastoren deckten ein breites Spektrum an Positionierungen ab. Insgesamt kann man aber sagen, dass 80 Prozent regimetreu waren und aktiv kollaboriert haben.

Woran haben Sie das festgemacht?

Ich habe einen Katalog aus 122 Kriterien entwickelt, der von ­NSDAP-Mitgliedschaft über die „Einschwörung der Gemeinde auf das Hitler-Regime“ bis zu „Antisemitismus“ reicht, aber auch das „Eintreten gegen Antisemitismus“ umfasst. Anhand dessen konnte ich das NS-relevante Verhalten ganzheitlich abdecken.

Welche Quellen haben Sie genutzt?

Vor allem Personal-, aber auch Entnazifizierungsakten, die Berliner NSDAP-Mitgliederkartei, Nachlässe der Pastoren sowie Gemeindechroniken. Außerdem habe ich 1.000 Predigten und Katechesen – Entwürfe für Konfirmandenunterricht – ausgewertet.

Nehmen wir das Markanteste: Wie viele von ihnen waren Parteimitglieder?

Helge-Fabien Hertz’ Studie „Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektiv­biografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft“ erscheint am 4. April; De Gruyter, 1.778 S. mit 7 SW-Abbildungen und 367 Farbtabellen, 299 Euro

Datenbank mit allen 729 Pastoren: https://pastorenverzeichnis.de

40 Prozent der Pastoren waren in den Kern-Organisationen ­NSDAP, SA, SS. Angesichts der Tatsache, dass Pastoren nicht in die Partei eintreten mussten, um berufliche Vorteile zu haben, ist das eine auffallend hohe Zahl.

Warum taten sie es dann?

Vermutlich aus Überzeugung. Die Aufgeschlossenheit für den Nationalsozialismus war sehr groß. Denn Schleswig-Holstein war sehr ländlich und protestantisch geprägt und damit tendenziell NS-affin, zumal der Protestantismus nationalistischer orientiert war als der Katholizismus, der mit der Zentrumspartei auch eine eigene Milieupartei hatte. Protestanten sammelten sich vor allem in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und später in der NSDAP.

Wobei der Nationalsozialismus ein „germanisches Heidentum“ predigte. Wie brachten Pastoren das mit christlichen Inhalten zusammen?

32, Germanist, Historiker und Antisemitismusforscher, ist Lehrbeauftragter an der Abteilung für Regionalgeschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Da muss man differenzieren. Natürlich war dieser dem Germanentum zugewandte Flügel sehr stark. Das waren die Kreise um Heinrich Himmler und Baldur von Schirach. Aber die NSDAP hatte auch einen christlichen Flügel. Adolf Hitler war bis zuletzt Mitglied der katholischen Kirche und Hermann Göring hat kirchlich geheiratet. Im NSDAP-Parteiprogramm war vom „positiven Christentum“ die Rede. Da konnten Pastoren ideologisch durchaus andocken.

Wie viele waren bei den NS-nahen Deutschen Christen, wie viele bei der Bekennenden Kirche?

Ungefähr die Hälfte der 729 Pastoren war Mitglied der Bekennenden Kirche, ein Viertel bei den Deutschen Christen und ein weiteres Viertel kirchenpolitisch neutral.

War die Bekennende Kirche nicht ein Hort des Widerstands?

Nein. Wenn es überhaupt Widerstand gab, dann zwar ausschließlich in der Bekennenden Kirche. Aber er blieb auch dort die Ausnahme.

Wie gefährlich war es für Pastoren, Widerstand zu leisten? Pastor Friedrich Stellbrink – einer der „Lübecker Märtyrer“ – wurde 1943 hingerichtet.

Ja, dieser Fall ist relativ bekannt. Da Lübeck damals eine eigene Landeskirche war, ist Stellbrink nicht Teil meiner Untersuchung. Und von den 729 schleswig-holsteinischen Pastoren wurde „nur“ einer im KZ ermordet, weil er sich 1945 weigerte, noch mehr Ost-Flüchtlinge aufzunehmen – ein Akt staatlicher Willkür. Insgesamt boten die Kirchen aber einen guten Schutzraum.

Für wen zum Beispiel?

Pastor Friedrich Slotty etwa blieb, obwohl er sich zwischen 1934 und 1939 immer wieder regimekritisch äußerte, unbehelligt. Er nahm Juden in Schutz und erklärte seinen Konfirmanden, dass der Erste Weltkrieg ohne die für Deutschland kämpfenden jüdischen Soldaten viel früher verloren gewesen wäre. Er hat Hitler attackiert und ihn in seinen Predigten Emporkömmling und Blutsauger genannt. Vor Gericht wurde er zweimal freigesprochen. 1939 versetzte ihn die Landeskirche in den Ruhestand. Allerdings bekam er weiterhin sein Gehalt ausgezahlt und übernahm Vertretungen in anderen Kirchengemeinden. Das zeigt, welchen Handlungsspielraum Pastoren hatten – den die meisten nicht nutzten.

Auch Boye Gehrckens nicht.

Im Gegenteil. Er ist schon 1930 – drei Jahre vor Hitlers „Machtergreifung“ – sowohl in die NSDAP als auch in die SA eingetreten.

In Hitlers Schlägertrupp?

Ja. Man wundert sich, wie viele Pastoren der SA beitraten – ungefähr 140 von ihnen. Für einige konnte ich konkrete Gewalttätigkeiten nachweisen. Sie nahmen an sogenannten Saalschlachten teil oder prügelten sich auf der Straße mit Kommunisten.

Wurden Pastoren auch zu Denunzianten?

Ja, ungefähr 20 von ihnen haben Menschen, meist Amtsbrüder, an die Gestapo oder die Kirchenbehörde verraten. Einer räumte sogar ganz frei ein, gern als Gestapo-Informant tätig zu sein. In Hamburg-Wandsbek zum Beispiel hat ein Propst einen seiner Pastoren aus dem Amt gedrängt, der mit einer Christin jüdischer Herkunft verheiratet war und sich nicht scheiden lassen wollte. Der Propst hat ihn an verschiedenen Stellen denunziert, bis er aus dem Dienst entlassen wurde.

Waren Pastoren in Schleswig-Holstein regimetreuer als anderswo?

Das kann ich nicht beantworten, denn dies ist bundesweit das erste Mal, dass das für eine Landeskirche komplett erhoben wurde und dass eine solide empirische Grundlage existiert. Schleswig-Holstein war allerdings eine sehr frühe und markige NS-Hochburg, und man kann vermuten, dass manche Dinge hier extremer ausfielen als andernorts.

Warum kommt diese Studie erst 77 Jahre nach Kriegsende?

Weil die Aufarbeitung – wie in vielen Bereichen – auch hier lange gestockt hat. Aber seit der Jahrtausendwende zeigt die evangelische Kirche ein echtes Interesse an der Aufarbeitung, die Nordkirche hat das Projekt unterstützt. Seitdem hat es auch kritische Studien gegeben, die das Bild von der Bekennenden Kirche als Widerstandsgruppierung hinterfragen. Bislang hat sich das aber weder in der Forschung noch im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt.

Wie erging es den NS-treuen Pastoren eigentlich nach 1945?

Wie in der gesamten deutschen Nachkriegsgesellschaft wurden sie auch in der Kirche praktisch nicht entnazifiziert. Hinzu kommt, dass sowohl die evangelische als auch katholische Kirche nach 1945 darangingen, Mythen von sich selbst als Widerstands- und Opfergruppe zu erschaffen. So begann man nach 1945, Opferlisten zusammenzustellen, anstatt zu prüfen, wer NSDAP-Mitglied gewesen war. Dieses Narrativ wurde von der Forschung dann erst mal übernommen und noch lange so tradiert.

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