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Die sozialdemokratische Epoche

■ Die Sozialdemokratie soll sich auf europäischer Ebene neu erfinden, sagt Robert Misik. Leider weiß er aber nicht genau wie

Schon vor der Bundestagswahl vom Verlag angezeigt, doch erst nach der Wahl veröffentlicht wurde Robert Misiks zweites Buch: die Beschwörung einer sozialdemokratischen Zukunft in Europa. Autor und Verlag hatten gute Hoffnung auf den Wahlausgang.

Alles fing – nach Misik – mit Tony Blair an, der schuf den „Neo- Revisionismus“ der Sozialdemokratie; das heißt, die Sozialdemokratie akzeptiert die private Ökonomie und greift nur noch an den Grenzen des Marktes regulierend ein, ist aber nicht mehr direkt durch staatliche Schlüsselindustrien oder Staatsinterventionen am Marktgeschehen beteiligt. Dabei verabschiedet sich die Sozialdemokratie en passant von einigen traditionellen Programmsätzen, wie die Labour Party 1995, als sie das Ziel des gemeinschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln aus dem Parteiprogramm strich. Zwar gibt es unterschiedliche Vorstellungen unter Europas Sozialdemokraten, aber letztendlich ist für Misik Blair der Trendsetter.

Im Mittelteil seines Buches stellt Misik kenntnisreich einige Überlegungen an, was sich alles geändert hat in der Gesellschaft und in der Sozialdemokratie, seit diese sich am Geschäft des Regierens beteiligt: Ihre Stammklientel verschwindet mehr und mehr, die großen Visionen, der große „Narrativ“, bleiben auf der Strecke, und der Rahmen für eine nationalstaatliche Regulierung des Kapitalismus ist auch perdu. Also müssen die Parteien sich, wie der Untertitel sagt, „zwischen Tradition und Pragmatismus“ hindurchwursteln.

Misiks erstes Buch konnte man als ein originelles Plädoyer für eine Wiedergewinnung des Utopischen lesen. Misik bleibt auf dieser Linie, wenn er sagt, daß das Beibehalten alter sozialistischer Zielvorstellungen als „ein gewisser Vorbehalt gegenüber der Wirklichkeit den Möglichkeitssinn schärft“; aber er ergänzt, daß ein „gewisser Grad an Gelassenheit und wohl auch an Pragmatismus (...) notwendig in die sozialdemokratische Politik ein(zieht)“. Also doch durchwursteln?

Am Ende seines Essays plädiert Misik für eine Europäisierung der Sozialdemokratie. Diese müsse nichts weniger, als sich auf europäischer Ebene neu erfinden, da Europa der einzige Raum für eine mögliche Regulierung des freien Marktes sei. Es folgt eine schlappe Aufzählung von einigen Zutaten des Euro-Keynesianismus: staatliche Investitionen in Infrastrukturprojekte, Zinssenkungen und Steuerharmonisierungen. Das ist so richtig, wie es allgemein und bekannt ist – zumindest links der Mitte.

Den möglichen Gegenargumenten zu seiner Europa-Begeisterung setzt Misik sich wenig aus. Natürlich gibt er zu, daß nach der wirtschaftlichen beziehungsweise fiskalischen Union auch eine politische folgen müsse. Wie aber das zur Zeit noch beträchtliche Demokratiedefizit innerhalb der EU überwunden werden soll und warum ausgerechnet der Weg Richtung weniger Demokratie zur Wiederentdeckung des Politischen führt, läßt Misik offen und vertröstet uns auf einen „werdenden Staat“. Und warum ist die Sozialdemokratie Träger dieser Hoffnungen auf einen Europa-Staat, der den Markt reguliert? Spricht die europäische Sozialdemokratie tatsächlich „seit achtzig Jahren wieder mit einer Stimme“? Sind nicht doch noch deutliche Unterschiede in den konzeptionellen Vorstellungen von Blair einerseits und Jospin und Lafontaine andererseits? Die beiden letztgenannten werden kaum erwähnt bei Misik. Und wenn sich die Sozialdemokraten annähern, dann doch am ehesten auf der Basis der Anerkennung des Faktischen – also ganz pragmatisch. Ist das Grund zur Hoffnung?

Keine Frage: Misik ist wieder ein flott geschriebener Essay gelungen. Der Entwurf einer großen Utopie des sozialdemokratischen Europa, um den „Möglichkeitssinn“ für die Gegenwart und die jetzt regierenden Parteien zu schärfen. Das ist ein legitimes Anliegen. Aber für die Frage, in welcher Richtung die Utopie zu suchen ist, dafür braucht es auch sorgfältige Analyse und Diskussion. Christoph Fleischmann

Robert Misik: „Die Suche nach dem Blair-Effekt. Schröder, Klima und Genossen zwischen Tradition und Pragmatismus“. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 14 DM

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