Die moderne Anthropologie: Die neugierigen Reisenden
Die Anthropologinnen um Franz Boas: Gegen das herrschende rassistische Weltbild setzten sie bei Reisen auf empirische Forschung.
Sie schauten in jeden Kochtopf, notierten noch die winzigsten Details, besuchten die abgelegensten Orte und fischten nach Tabus und Legenden – der „Kreis verwegener Anthropologen“ um Franz Boas. Das Buch „Schule der Rebellen“ über den Ethnologen Franz Boas und seine Mitstreiterinnen entführt in die wilden Anfänge einer aufstrebenden Wissenschaft und Forschung, die sich gegen das rassistische Weltbild ihrer Zeit durchsetzen musste.
Der „wissenschaftliche Rassismus“ dominierte nicht nur in den europäischen Nationalstaaten mit ihrer Kolonialgeschichte, sondern auch im multiethnischen Einwandererland Amerika. Anthropometriker und andere Rassenkundler versuchten die höhere Wertigkeit der arischen, der weißen Rasse mit obskuren Vermessungen und Behauptungen zu beweisen, um so den Dominanzanspruch der weißen Rasse zu rechtfertigen und diese von anderen, ungesunden Erbmassen abzugrenzen und die eugenische Zwangssterilisation von Menschen mit „schlechtem Erbgut“ zu legitimieren. Ihre Bibel war „The passing of the race“ von Charles Grant, das 1925 unter dem Titel „Der Untergang der Großen Rasse“ auch in Deutschland erschien. Hitler zog es begeistert und ausführlich für seine Rassentheorie heran.
Der Autor Charles King erzählt spannend und gut geschrieben die Geschichte seiner ProtagonistInnen: ihre Reisen, Kämpfe, Lieben, Leidenschaften, aber auch ihre Zweifel und Verirrungen. Vor allem erzählt er die Geschichte des Rassismus zur Hochzeit von Kolonialismus und Rassentheorie sowie dessen Unterhöhlung durch die neue Wissenschaft der Anthropologie.
Franz Boas war Ende des 19. Jahrhunderts von Deutschland nach Amerika ausgewandert. Er gilt als Begründer der modernen Anthropologie. Seine Feldforschungen bei den Inuit im arktischen Archipel und den Indigenen in Westkanada führten ihn zu der Erkenntnis, dass die kulturelle Prägung entscheidend für gesellschaftliche Unterschiede ist und nicht biologische Wesensmerkmale, wie damals die vorherrschende Behauptung war. „Schule der Rebellen“ zeichnet die Karrieren der Boas-Schülerinnen Margaret Mead, Ruth Benedict und der ersten afroamerikanischen Ethnologin, Zora Neale Hurston, nach.
Charles King: „Schule der Rebellen: Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand“. Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. Hanser Verlag, München 2020, 423 Seiten, 26 Euro
Ungewöhnliche, unangepasste Frauen, tiefschürfende Wissenschaftlerinnen, die mutig durch die Welt zogen und kein Abenteuer scheuten. Sei es im Sinne ihrer Forschung oder ihres Liebeslebens. Margaret Mead war insgesamt dreimal verheiratet und hatte bis zu ihrem Tod eine leidenschaftliche Beziehung zu ihrer einstigen Tutorin Ruth Benedict. Zora Hurston führte ein unangepasstes, eigenwilliges Leben. Hurston erforschte zunächst den Alltag und die Rituale der schwarzen Bevölkerung der Südstaaten. Margaret Meads Studien zur Pubertät in anderen Kulturen forderten die herrschende verklemmt-spießige Morallehre heraus.
Ob Margaret Mead auf der Südseeinsel Samoa alles zum Innenleben pubertierender Mädchen notierte oder Zora Hurston auf Haiti Zombies fotografierte – King nimmt uns mit auf ihre Reisen. Und diese Reisen, die Forschungsergebnisse dieser Frauen um „Papa Franz“, wie sie Boas nannten, veränderten das Denken über Ethnie und Geschlecht. Das Buch schildert auch die Anfänge der Diskussion über Sex, Race und Gender.
Gegen die herrschenden rassistischen und eurozentristischen Ansichten setzten sie die Idee der Gleichrangigkeit der Kulturen. Ihren Kulturrelativismus verteidigten sie mittels empirischer Forschungen: Die Ethnologen sollten Informationen sammeln, anstatt für bestehende Theorien Beispiele zu suchen. Der Wissenschaftler müsse sich teilnehmend dem Menschen nähern, deren Leben er erforscht. Nur als teilnehmender Beobachter habe der Forscher die Möglichkeit, die unbekannte Kultur wirklich zu verstehen.
Sie fuhren in die hintersten Winkel der Welt, lauschten Erzählungen, Märchen, untersuchten Verwandtschaftsbeziehungen, Sexualität und Rituale. Die Menschen vor Ort waren die einzig gültigen Zeugen ihrer Kultur und nicht irgendwelche vorgefassten Meinungen und Vorstellungen über sie. Die Anthropologinnen versuchten andere Kulturen aus dem Kontext ihrer Gegenwart zu deuten. Dazu mussten sie reisen, Informationen sammeln, sich auf andere Kulturen einlassen. Dafür waren nicht nur Gelehrsamkeit und Empathie gefragt, sondern auch Abenteuerlust und Mut.
Ihr Kulturrelativismus wandte sich gegen die Vorstellung einer Überlegenheit von bestimmten Völkern. „Wir sollten niemals aufhören“, so das Credo Franz Boas, „zu wiederholen, dass der Rassismus ein monströser Irrtum und eine dreiste Lüge ist.“ Für Boas war der Fehler der bisherigen Ethnologie, die Menschen mittels Vorannahmen zu diskriminieren. Er wies entschieden den Anspruch der Weißen zurück, die Krönung der Zivilisation zu sein und daher andere herabwürdigen und ausbeuten zu dürfen. Die Ethnologie müsse aufhören, so Boas, den Kolonialismus zu legitimieren.
Franz Boas, Anthropologe
Immer wieder konnte der Boas-Kreis anhand des empirischen Materials aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt gängige Theorien und Ansichten widerlegen. Warum zum Beispiel sollte man an Rassentypen festhalten, wenn sich diese nach Vermessungen als unhaltbar zeigen? Jede Geschichte der Menschheit, die sich als großer Wettbewerb der Rassen begreife, sei falsch. „Diese Ergebnisse sind so eindeutig, dass, während wir bislang das Recht zur Annahme hatten, Menschentypen seien stabil, alle Beweise nun zugunsten einer größeren Formbarkeit menschlicher Typen sprechen, und die Permanenz von Typen in neuer Umgebung scheint nun eher die Ausnahme als die Regel zu sein.“ Was die Menschen tun, weniger, was sie sind, sollte der Ausgangspunkt für eine seriöse Sozialwissenschaft und damit auch Grundlage der Einwanderungspolitik sein, schreibt Boas. Die bisherige Wissenschaft, so kritisierte er, erhebe die westliche Kultur zur universellen Norm, was die Minderwertigkeit aller anderen impliziere.
Charles Kings spannend geschriebenes Buch über die Entstehung der Anthropologie ist faktenreich, lebendig und analytisch. Er schreibt: „Kulturen sind raffinierte Schneider. Sie schneidern Kleider nach Zweckmäßigkeit und arbeiten danach intensiv daran, die einzelnen Menschen so umzuarbeiten, dass sie hineinpassen. Befreiung bedeutet, das Potenzial der Menschen von den Rollen zu befreien, die die Gesellschaft geschneidert hat.“ Kulturwandel komme dann auf, wenn genug Menschen zu erkennen begännen, „dass die alten Kleider nicht mehr passen“. Und Margret Mead schrieb in ihrem Nachruf auf Franz Boas: „Er glaubte, man müsse eine Welt schaffen, die Andersartigkeit aushielt.“
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