Die kleine Schwester des Charisma: So gewinnt man Wahlen
Eine Haltung zu haben, ist prima. Sie sieht gut aus, bekennt sich zur Schwere der Zeiten und erspart lästiges Argumentieren.
S elten geben Wahlkampfmanager so offen Auskunft über ihre aktuelle Arbeit. Der 51-Jährige Werber Frank Stauss hat soeben der FAZ erklärt, wie er Malu Dreyer, der SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, zum Wahlsieg am vergangenen Sonntag verholfen hat.
„Wenn Sie einen Kandidaten mit Haltung haben, ergeben sich viele Entscheidungen im Wahlkampf von selbst“, sagt Stauss dort. Zum Beispiel sei es richtig gewesen, dass Dreyer nicht mit der AfD diskutiert habe, auch wenn das von vielen für falsch und feige gehalten worden sei: „Wir haben in Befragungen [. . .] zurückgespielt bekommen, dass die Leute zwar nicht Dreyers inhaltliche Position teilten, aber ihre Haltung gewürdigt haben.“
Mit „Haltung“ gewinnt man also Wahlen. Damit benennt Stauss zweifellos einen Trend im, ganz grob gesagt, rot-rot-grünen Lager plus Angela Merkel. Vor wenigen Tagen saß der grüne Vize-Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein, Robert Habeck, in Anne Wills Talkshow und erklärte ebenfalls, Haltung sei das Erfolgsrezept.
Nicht zuletzt die Debatte über Angela Merkel und die Flüchtlingspolitik dreht sich seit Monaten um ihre Haltung, die wahlweise kompromisslos ist, verrückt oder nach zehn Jahren Kanzlerinnenschaft erstmals erkennbar.
Widerspruch
Haltung ist demnach etwas, das Person und Programm auf neue Weise verbindet und auch Widersprüche aushält, mehr noch, Haltung ist sogar der gelebte, in eine Form gegossene, in einer Person gelebte und damit ausgehaltene Widerspruch. Das unterscheidet die Haltung von einer schlüssigen Argumentation.
Zum Beispiel ist es nach den Gesetzen der Logik schwer erklärlich, warum Flüchtlinge in ungarischen Bahnhöfen nach Deutschland kommen dürfen müssen, Flüchtlinge in griechischen Schlammpfützen aber in die Türkei geschickt gehören. In die Person der Bundeskanzlerin aber passt das ebenso gut hinein wie in die Person, sagen wir, des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.
Der grüne Spitzenkandidat in spe Robert Habeck hat übrigens die Bedeutung von Haltung schon vor Jahren beschrieben: Demnach werde sie umso notwendiger, je komplexer die Politik werde. Dass die Kraft einer Persönlichkeit scheinbar Unvereinbares miteinander vereint, macht die Haltung zur kleinen Schwester des Charisma.
Charisma begründet Herrschaft, das gilt seit Max Weber als bewiesen; wie es funktioniert, ist bis heute schwer erklärlich. Immerhin aber durften wir anhand der Obamas erleben, was Charisma ist (auch wenn wir nicht begreifen, wie es geht). Es gab mal einen grünen Bundes-Pressesprecher, der hatte darüber sogar eine Doktorarbeit geschrieben, lächelte aber nur beschwichtigend, wenn man ihn um eine Zusammenfassung bat.
Die Haltung will sagen: Ich weiß, das ist jetzt alles schwer nachzuvollziehen, Kleines, aber glaub mir: Ich bin die Person, die sich redlich um eine Lösung bemüht. Die Haltung soll heißen: Alle anderen sind bloß Angeber. Damit bedeutet die Haltung auch: Okay, Leute, ich habe keine Antwort, aber ich halte euch darüber auf dem Laufenden, was schiefgeht, und ihr könnt nachher sagen, es war alles meine Schuld.
Lösung
Die Haltung ist also eine feine Sache. Erstens sieht sie gut aus, zweitens bekennt sie sich zur Schwere der Zeiten. Drittens entlässt sie den Haltung Tragenden wie das Haltung konsumierende Publikum aus der lästigen Argumentiererei, dieser ewigen Abfolge von Fakten und Urteilen.
Oder, jetzt mal im Vertrauen: Ist Haltung am Ende nicht bloß genau die Menge Mut, die es braucht, eine Meinung zu haben? Wäre ein Politiker ohne Haltung daher nicht ungefähr das Gleiche wie ein Politiker ohne Politik? Solche gibt es natürlich auch. Aber um PolitikerInnen jetzt auch noch für ihr Politischsein zu loben, dafür sind die Zeiten wirklich ein bisschen zu stürmisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus