Die Zukunft der SPD: Drei gegen Zickzack
Ist die SPD noch zu retten und wenn ja, von wem? Zu Besuch bei Genossen und Genossinnen, die für Hoffnung stehen.
Sie lächelt. Die SPD habe aber doch einiges korrigiert. Den Mindestlohn eingefühlt. Haan tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Du bist sogar als Pöbler nett“, sagt ihm seine Parteigenossin später in der Feedbackrunde.
Yannick Haan ist der Chef eines SPD-Ortsvereins in Berlin-Mitte. Im September wählen die Berliner das Abgeordnetenhaus neu. Dafür übt der Ortsverein heute in Rollenspielen Wahlkampf. Wie man uferlose Gespräche am Infostand beendet. Was man tut, wenn man von einem Thema keine Ahnung hat.
Es ist ein Dienstagabend im April, in dem Raum in einer Volkshochschule sitzen neun Männer und drei Frauen im Neonlicht. Ein ehemaliger Abgeordneter aus der Schweiz ist dabei und ein pensionierter Stadtdirektor aus Westdeutschland. Aber in der Mehrheit sind Leute in Jeans um die dreißig. Ein Bild, das in der Altmännerpartei SPD selten geworden ist.
Der Sozialdemokratie geht es dreckig, und dieser Satz langweilt ja schon, wenn man ihn nur hinschreibt. Die SPD müht sich in der Großen Koalition ab – Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote –, aber die Bundestagswahl 2017 scheint schon verloren. 21 Prozent in den Umfragen, brutale Verluste in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, und ganz vorne sitzt Zickzack-Siggi.
Man kann sich in diesen Tagen die Frage stellen, wer die SPD eigentlich noch braucht.
Gesine Schwan, 72 Jahre, gehört zu einer aussterbenden Spezies. Sie ist eine Intellektuelle, deren Biografie mit der SPD verwoben ist. Sie ist ihrer Partei treu, aber mit kritischer Distanz. Die Politikwissenschaftlerin kandidierte zweimal für das Amt der Bundespräsidentin, heute arbeitet sie für eine NGO, reist herum, hält Vorträge.
Der SPD fehle das Ziel, sagt Gesine Schwan
„Für viele Intellektuelle ist die Partei nicht fassbar. Die SPD ist demobilisiert, ihr fehlt die Inspiration, das Ziel.“ Bei ihren Reisen bekommt Schwan von vielen Menschen dasselbe Bedürfnis gespiegelt. „Mein Eindruck ist, dass eigentlich viele auf eine Sozialdemokratie warten, die mutig ist.“
Vielleicht ist es wirklich interessanter, mal nach dem Funken Hoffnung in all dem Elend zu suchen. Ist die SPD noch zu retten, und wenn ja, von wem? Wie könnte eine moderne Sozialdemokratie aussehen? Um Antworten zu bekommen, muss man sich in die Niederungen der Partei begeben.
Die Hector-Peterson-Schule in Berlin-Kreuzberg hatte einen fatalen Ruf. Sie wollte sich neu erfinden. Wir haben sie ein Jahr lang beobachtet. Ob es funktioniert hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Mai. Außerdem: Die SPD steckt in der Abwärtsspirale. Drei Besuche bei Menschen, die erklären, warum sie die Partei der Zukunft ist. Und: Das sächsische Freital wurde bekannt für Angriffe auf Flüchtlinge. Jetzt ist dort die syrische Band Khebez Dawle aufgetreten – gegen Rechts. Eine Reportage. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Zu einem Basisgenossen in Hannover, der von der SPD zur Linkspartei wechselte – und wieder zurückkam. Zu einer türkischstämmigen Quereinsteigerin, die Integrationsministerin in Baden-Württemberg war. Und zu Yannick Haan, dem 30-jährigen Ortsvereinschef aus Berlin, der im Rollenspiel so sympathisch scheitert.
Haan hat ein Buch über Digitalisierung geschrieben. In seinem Job managt er das Projekt „Hack Your City“, das mit virtueller urbaner Kommunikation experimentiert. Haan kennt sich mit zwei Sachen gut aus, die nicht unbedingt zusammenpassen: mit dem Internet und mit der SPD.
Als er 2009 eintrat, gründete er die AG Netzpolitik. Zum ersten spontanen Treffen kamen gleich 50 Leute. Er war 23 Jahre alt und glaubte, dass die Parteispitze begeistert sein würde. Die Berliner SPD leidet ja nicht gerade unter einem Ansturm junger Engagierter. Doch der Landesvorstand setzte von oben eine Chefin der AG ein. „Die hatte keine Ahnung von Netzpolitik und kam auch nur einmal zu uns.“
Viel großartiges Gestern
Das wäre ein erster Tipp von Haan für seine Partei. Die SPD müsse ja nicht gleich wie ein Start-up-Unternehmen auftreten, sagt er. Aber etwas weniger Kontrolle wäre schon gut.
Nur 7 Prozent der gut 440.000 SPD-Mitglieder sind unter dreißig. Es treten zwar jeden Monat ein paar Hundert Jüngere in die SPD ein. Aber viele scheitern an den Abstoßungskräften des Apparats. Im Ortsverein treffen sie oft auf Rentner, die beraten, wie viele Bratwürste man für das Sommerfest braucht.
Haan postet auf seinem Blog Modefotografie und Bilder aus dem Bernie-Sanders-Wahlkampf. Er sagt: „Die Welt hat sich seit den 70er Jahren verändert. Die SPD-Parteiorganisation ist noch fast die gleiche.“ Der Ortsverein ist ein Mythos der SPD-Geschichte. Zu Willy Brandts Zeiten gab es eine Million Genossen, jetzt ist es knapp die Hälfte. Eine Umfrage zeigte 2010, dass jeder zweite Ortsverein politisch faktisch inaktiv war.
Es gibt in der SPD viel heroische Vergangenheit, viel großartiges Gestern. Davor erscheint das Heute, erscheinen SPD-Chef Sigmar Gabriel, aber auch Yannick Haan und seine Genossen irgendwie immer klein.
Seit ein paar Wochen ist Haan Vorsitzender der Abteilung SPD Alexanderplatz mit 156 Mitgliedern. Er will den Job anders machen. „Wir brauchen Formate für Leute, die keine Lust auf drei Abendsitzungen in der Woche haben“, sagt Haan. Dafür würde er auch gern das Internet effektiver nutzen. Doch die Mails an seinen Genossen kann er nicht selbst abschicken, sondern muss sie über den Landesverband senden. Bei Fundraising eine Paypal-Bezahlmöglichkeit per Mail zu verschicken überfordert die SPD ebenfalls. Für einen Digital Native, der Vorträge bei Bloggerkonferenzen hält, ist das ziemlich rätselhaft.
Warum ist ein Internetnerd in der SPD?
Was will so einer überhaupt in der SPD? Warum ging er nicht zu den Piraten? „Da sind sich doch alle einig, wenn es um das Urheberrecht geht“, sagt er. In der SPD müsse er sich mit Künstlern darüber streiten. Das Schöne an der SPD sei die Reibung, die entsteht, wenn sich verschiedene Gruppen einigen müssen. Volkspartei halt.
Und in der SPD hat er mehr politischen Einfluss als bei Amnesty oder Greenpeace, auch wenn die vielleicht als hipper gelten. Haans Ideal ist ein Ortsverein der österreichischen SPÖ, den ein paar junge Genossen kaperten. „Die entwickeln dort erfolgreiche Kampagnen – wie eine NGO.“
Yannik Haan will beides: Hacker-Convention und Volkspartei. Dinge einfach anpacken und die Macht, sie durchzusetzen.
Die Lage: Nicht schön. Die SPD dümpelte in Umfragen lange bei 25 Prozent, seit einigen Wochen rutscht sie weiter ab. Eine am Mittwoch veröffentlichte ARD-Umfrage sieht sie bei nur noch 20 Prozent.
Die Bilanz: Ist gar nicht so schlecht. Die SPD hat in der Großen Koalition mehrere Großprojekte durchgesetzt: Mindestlohn, Rente mit 63, Mietpreisbremse. Daneben gibt es eine Reihe kleinerer Erfolge, etwa die Frauenquote für Aufsichtsräte.
Der Chef: Sigmar Gabriel ist klar, dass sein Rückhalt schwindet. Im Dezember die 74-Prozent-Klatsche bei seiner Wiederwahl, vor ein paar Tagen hat nun der Unterbezirk Odenwald (Hessen) beschlossen, seine Abwahl zu fordern. Schwergewichte wie Olaf Scholz haben aber wenig Lust, 2017 die Niederlage gegen Merkel einzufahren. Deshalb muss Gabriel wohl selbst als Kanzlerkandidat ran.
Haan hat ein Jahr bei einem SPD-Bundestagsabgeordneten gearbeitet. Dann ist er ausgestiegen. Bei der üblichen SPD-Karriere läuft das anders.
Sie beginnt mit einem Politik- oder Jurastudium. Man wird Referent bei einem Abgeordneten, mit Glück darf man irgendwann per Landesliste in den Bundestag einziehen. Am Ende ist man dann Hubertus Heil.
Die SPD wirkt auch deshalb so farblos, weil ihre Funktionäre ähnliche Wege gegangen sind. Die Erkenntnis, dass eine vitale Organisation Vielfalt braucht, ist in der SPD noch recht frisch; dass eine Partei von weißen mittelalten Männern in mehr oder weniger gut sitzenden Anzügen keine Partei von morgen sein kann.
Gesine Schwan würde gern sehen, wie die SPD den Internationalismus wiederentdeckt. Europa ist für sie zentral, wenn sie über die SPD nachdenkt. Schwan hält es für einen Fehler, dass die SPD nie Distanz zu Angela Merkels Europapolitik entwickelte. Und dass sie nichts gegen die Schließungspolitik der EU gegen Flüchtlinge unternimmt. „Der Mangel an Solidarität innerhalb der EU ist die andere Seite des Mangels an Solidarität gegenüber den Flüchtlingen.“
Schwan schlägt zum Beispiel einen EU-Fonds vor, der Geld direkt an Kommunen gibt, um die Integration von Flüchtlingen zu fördern. Das wäre ein ursozialdemokratischer Ansatz. Er stärkt die Bürgergesellschaft vor Ort und zeigt, dass die EU kein Bürokratiemonster ist. Angewandter Keynesianismus.
Aber die Frage ist doch: Will Sigmar Gabriel so etwas überhaupt? „Wir sollten mit ihm im Gespräch bleiben“, sagt sie. Was für ein schöner Satz. Nur Reden hilft, so aussichtslos es auch scheinen mag. Auch das ist sehr sozialdemokratisch.
Jung, türkischstämmig, schlagfertig
Bilkay Öney, 45 Jahre, legt in einem Café in Berlin-Kreuzberg 28 eng bedruckte Seiten in einer Klarsichthülle auf den Tisch. So, bitte lesen. Das ist ihre Bilanz als Integrationsministerin in Baden-Württemberg, vom abgeschafften Gesprächsleitfaden in Einbürgerungsverfahren bis zum Integrationsgesetz.
Öney ist das, was man im Politbetrieb eine Quereinsteigerin nennt. Sie arbeitete als TV-Journalistin für einen staatlichen türkischen Sender in Berlin, bis die Grünen sie 2006 ins Abgeordnetenhaus schickten – als integrationspolitische Sprecherin.
Eine junge Frau, türkischstämmig, hübsch und schlagfertig, solche Attribute sind interessant für Parteien. Öney wechselte dann noch im Abgeordnetenhaus zur SPD. 2011 holte Baden-Württembergs Landeschef sie von Berlin nach Stuttgart. Als erste Integrationsministerin der SPD in Deutschland.
Ein Ministeramt nach fünf Jahren professioneller Politik, das ist eine steile Karriere. Wenn man so will, ist Bilkay Öney das sehr lebendige Beispiel dafür, dass die SPD gelernt hat. Dass die Partei langsam, aber sicher Diversity versteht.
Öney nippt am schwarzen Tee, gerade hat sie beim Bäcker nebenan Börek mit Spinat und Hackfleisch organisiert. Wie wurde sie in Stuttgart empfangen? „Die Widerstände waren riesig. Die CDU schoss sich schnell auf mich ein, aber auch in meiner Partei gab es Bedenken. Ich musste von Anfang an Leistung bringen.“
Das Prinzip, nach dem Ämter vergeben werden, ist in der SPD oft: Wer am längst sitzt, gewinnt. Die SPD Baden-Württemberg hatte 2011 wenige Posten zu verteilen, Öney war die türkischstämmige Neue aus Berlin, die an allen vorbeizog. Kurz: die maximale Provokation.
Frau Öney, hat die SPD verschlafen, wie wichtig Migranten als Zielgruppe sind?
„Die SPD war die Partei, die Migranten früh etwas anbot. Eine Kümmererpartei, die an kleine Leute dachte und Aufstieg durch Bildung versprach.“ In der SPD dachte man lange: Die Migranten wählen uns sowieso. Selbst wenn es unter den 50 Spitzengenossen der Partei 2009 keinen einzigen mit Migrationshintergrund gab.
Öney spricht in dem Kreuzberger Café schnell, unverstellt und ehrlich. So ehrlich, dass man später einen Gedanken nicht mehr loswird: Diese Politikerin redet sich um Kopf und Kragen, wenn das Aufnahmegerät nur lange genug läuft.
Aber da steckt man schon wieder in der Denkschule der Berlin-Mitte-Politik. Viele wichtige SPDler sprechen Funktionärsdeutsch, eine seltsam wolkige, nichtssagende Floskelsprache, in der sich Keywords wie „soziale Gerechtigkeit“ wiederholen.
Bei Öney ist es einfach so: Man hört ihr gerne zu. Ihre Stimme werde in der Landespolitik fehlen, schrieb die Stuttgarter Zeitung gerade über sie. Weil die SPD in Baden-Württemberg aus der Regierung flog, ist Öney bald nicht mehr im Amt.
Sie sagt über die SPD: „Wenn du eine Wahl gewinnen willst, musst du die hellsten Kerzen auf die Torte stecken. Damit tut sich meine Partei manchmal schwer.“ Die Ziele der SPD seien richtig, aber das Wording sei veraltet. „Wenn die SPD ein Lied ist, darf die Melodie nicht immer nur Polka sein. Wir brauchen Punk, HipHop, Rock, Klassik – und von mir aus auch Polka.“
Ein Arbeiter wählt heute CDU oder AfD
Wobei das Lied der SPD ja leider keine erkennbare Melodie mehr hat. Ihre Wähler fürchten sich vor der Globalisierung, aber kein noch so starker Nationalpolitiker könnte sie aufhalten. Wählermilieus und ihre Bindung an Parteien lösen sich auf. Ein Arbeiter wählt heute CDU oder AfD. Und dann natürlich noch das Agendadebakel.
Die Sozialdemokratie habe Ende der Neunziger keine Alternative zum Neoliberalismus gefunden, sagt Gesine Schwan. Stattdessen setzte sie unter Gerhard Schröder harte neoliberale Reformen durch, Steuersenkungen für Reiche, Strafen für Arbeitslose. „Der Mainstream ist immer noch neoliberal. Und es fällt der Sozialdemokratie noch immer schwer, eine eigenständige Strategie zu formulieren.“
In Österreich schimmert auf, was einer entkernten, in Großen Koalitionen gebunden SPD drohen könnte. Bei der Bundespräsidentenwahl düpierte Norbert Hofer, der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ, die Bewerber der Volksparteien. Für den SPÖ-Mann stimmten nur 11,3 Prozent der Menschen. 72 Prozent der Arbeiter votierten für die Rechten. Ein fernes, aber nicht ausgeschlossenes Schreckensszenario.
Der Gedanke, was in Deutschland ohne SPD los wäre, ist übrigens ein ziemlich bedrückender. Die Sozialdemokraten machen sie an Merkels Seite vernünftige Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Der Mindestlohn war nichts anderes als ein satter Lohnaufschlag für die Leute, die es am Nötigsten haben. Eine schwarz-grüne Regierung würde anstehende Verteilungskämpfe anders lösen. Aber das glaubt der SPD niemand mehr.
Ausgetreten, aber zurückgekommen
Roland Schmitz-Justen bekommt von der SPD jeden Monat 202 Euro Aufwandsentschädigung, 54 davon überweist er freiwillig zurück an die Partei. Schmitz-Justen, 48 Jahre, schwarze, schulterlange Locken, schwarzes Punk-Band-T-Shirt, ist der Chef der SPD-Bezirksratsfraktion in Hannovers Stadtviertel Südstadt-Bult. Sechs bis sieben Stunden Arbeit die Woche bedeutet das, neben seiner Stelle als Heilerzieher und Betriebsrat in einem Betrieb für Behindertenhilfe.
Schmitz-Justen zieht vor seiner Haustür die Schuhe aus und geht noch schnell in die Küche, Kaffee machen. Dann erzählt er, warum er aus der SPD ausgetreten, aber zurückgekommen ist. Schmitz-Justen ist der verlorene Sohn der Sozialdemokratie.
2004 war ein wichtiges Jahr für ihn. Sein Sohn Oskar kam zur Welt, und er brach mit seiner Partei. „Der Austritt war für mich ein großer, auch schmerzhafter Schritt.“ Mit 16 war er zu den Jusos gegangen, bisschen saufen, bisschen Politik machen, bisschen Maul aufreißen – seitdem war er Sozialdemokrat. Doch dann drückte Gerhard Schröder die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Gesetze durch.
Schmitz-Justen stützt in seinem Sessel die Unterarme auf die Oberschenkel. „Am schlimmsten finde ich, dass diese Gesetze arbeitslose Menschen bestrafen.“ Menschen, die nicht funktionierten, zu sanktionieren, das widerspreche dem freiheitlichen Gedanken, für den die SPD stehe.
Der „kleine Mann“
Also steckte Schmitz-Justen seinen Parteiausweis in einen Briefumschlag und schickte ihn an den Stadtverband Hannover. Der Brief kam zurück. Zu wenig Porto, vielleicht hofften die Genossen aber auch noch auf einen Stimmungswechsel. Schmitz-Justen lacht laut, wenn er sich daran erinnert.
Wenn Spitzenfunktionäre über den „kleinen Mann“ sprechen, der SPD wählen müsse, dann könnten sie damit jemanden wie Schmitz-Justen meinen. Er hat zwei Söhne, verdient nicht viel, spielt Fußball, und an seine Mietwohnung in dem Klinkerbau „Hochhaus Glückauf“ aus den Zwanzigern wurde neulich ein Balkon angebaut. Nur die Tür fehlt noch, der Vermieter hat vergessen, sie genehmigen zu lassen.
Bei der WASG – der linken Neugründung im Westen, die später in der Linkspartei aufging – merkte Schmitz-Justen schnell, dass sie keine bessere Sozialdemokratie werden würde, wie er erhofft hatte. Zu sektiererisch, wer etwas werden wollte, musste sich mit dem linksdogmatischen Chef des Landesverbandes gut stellen. Schmitz-Justen und andere Ex-SPDler galten als Parteirechte, sie wurden beschimpft.
Schmitz-Justen sagt: „Als Rechter bei den Linken wurde ich von vielen wie ein Verräter behandelt. Als Linker in der SPD bin ich für alle ein Genosse.“
In seinem Ortsverein Südstadt-Bult sind die Erfolge konkret. Sie haben eine Integrierte Gesamtschule in der Südstadt durchgesetzt. Gute und schlechte Schüler lernen gemeinsam, sägen in der Holzwerkstatt oder spielen Rugby. Schmitz-Justen hat seinen Sohn angemeldet. „Wer Kinder früh trennt, braucht sich später über eine ungleiche Gesellschaft nicht zu wundern.“
Als er an den Linken verzweifelte, kam er zurück
Wenn Schmitz-Justen so über sich und die SPD redet, in seinem gelb gestrichenen Wohnzimmer mit Schrankwand und Aquarium, dann wird schnell klar: Da glaubt jemand wirklich an das Gute im Menschen und an die Richtigkeit von Politik, und zwar auf eine ganz und gar unzynische Art und Weise.
Was hält er von Sigmar Gabriel? „Gabriel steht für nichts. Er ist der Prototyp einer Funktionärsgeneration, die auf Lobbyisten hört, aber nicht auf die Leute vor Ort. Doch mit diesem Politikstil werden wir bald Schluss machen.“ Schmitz-Justen findet, die SPD muss wieder linker werden.
Die Sozialdemokratie werde den Wechsel nach Gabriel organisieren, sagt er. „Meine SPD wird auch diese Generation von Politikfunktionären überleben.“
Als Schmitz-Justen damals klar wurde, dass er mit der Linken fertig war, dachte er über seine Alternativen nach. Eine sympathische Spaßpartei ohne politischen Einfluss wie die Satiretruppe „Die Partei“? Oder zu den Grünen?
Die seien vor Ort eine Partei für Besserverdiener, die auf Hartz-IV-Empfänger herabschaun, die billige Milch bei Aldi kaufen, sagt er. Dieser Blickwinkel machte für ihn den Unterschied zur SPD aus. Er füllte einen Mitgliedsantrag aus, es gab ein paar Fragen im Ortsverein, dann war er wieder dabei. Die Beziehungspause habe ihn enorm weitergebracht, politisch und persönlich, sagt er.
Das ist doch mal eine kleine gute Nachricht für die SPD. Viele flüchten vor ihr, keine Frage. Aber offenbar kann sie auch eine Partei zum Zurückkommen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“