Die Wahrheit: Ich bin dann vielleicht mal weg
Bei der Entrückung werden manche Christen ins Paradies verpuffen, heißt es. Haben Anhänger der Theorie diese Rechnung ohne ihren Herrn gemacht?
I m Jahre 2018 hatte der südafrikanische Prediger Joshua Mhlakela eine Vision, in der Jesus ihm offenbarte, dass am 23. September 2025 alle Christen in den Himmel entrückt würden. Für die sündige Restbevölkerung beginne danach eine siebenjährige Zeit des Chaos, die sogenannte „Drangsal“, die schließlich am 15. September 2032 im Jüngsten Gericht kulminiere – und dann kehre Jesus zurück, um als König über die Welt zu herrschen.
Diese Ankündigung löste vor allem in den USA große Begeisterung aus. Dazu muss man wissen, dass die „Entrückung“ – auf Englisch „the rapture“ – zum theologischen Standardrepertoire der Evangelikalen gehört.
Praktisch muss man sich das so vorstellen: Man sitzt als Atheist, Jude oder Muslim mit einem christlichen Freund in einem Café und plaudert über Fußball, Keuschheit vor der Ehe oder Jens Spahn und plötzlich – puff – ist der Freund verschwunden! Der Stuhl gegenüber ist einfach leer. Weil der Freund nun zur Rechten Gottes sitzt.
Angeblich sollen amerikanische Fluggesellschaften inzwischen sogar vorsichtshalber darauf achten, niemals rein christliche Flugteams zusammenzustellen. Jedem christlichen Piloten werde ein ungläubiger Co-Pilot zur Seite gesetzt, damit Letzterer im Falle der Entrückung des Ersteren das Steuer übernehmen könne und das Flugzeug nicht abstürze.
Dazu passt, dass eine freikirchlich aufgewachsene Freundin mir erzählte, dass sie sich als Kind mit Hilfe von Büchern theoretisches Wissen übers Autofahren aneignete, um bei einem Familienausflug im Falle des Falles auf den leeren Fahrersitz zu springen, und das Auto unfallfrei zum Stehen bringen zu können.
Andere ähnlich sozialisierte Menschen berichteten mir, dass sie früher fest damit rechneten, irgendwann von der Schule oder von Freunden nach Hause zu kommen und eine leere Wohnung vorzufinden. Weil die ganze rechtschaffene Familie in ihrer Abwesenheit entrückt wurde. Nur eben sie nicht, weil sie dann doch einmal zu viel gesündigt hatten.
Falls Ihnen also am Dienstag seltsame Dinge passiert sind, falls sich zum Beispiel die Schlange im Supermarkt vor Ihnen in Luft aufgelöst hat oder Ihre Ärztin sich während des Gesundheits-Check-ups mit einem erleichterten Seufzer entmaterialisierte: Sie hatten keinen psychotischen Schub oder LSD-Flashback. Es war nur die Entrückung.
Für mich als Kolumnisten hat dieses Datum folgenden Vorteil: Ich werde keine bösen Leser-E-Mails von frömmelnden Christen bekommen. Weil die alle seit Dienstag im Himmel sind. Oder ganz anders: Vielleicht schreiben sich die Christen auch grade die Finger wund, aber ich werde ihre Beschwerden nicht lesen können, weil statt ihrer ich entrückt wurde.
Direkt nach Abgabe dieser Kolumne. Zusammen mit Millionen anderer agnostischer Zweifler. Weil Gott vielleicht doch klüger ist, als seine Apologeten meinen. Seine Wege sollen ja unergründlich sein …
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