Die Wahrheit: Schwer unter Kartoffeldruck
Die vorgezogene und nächste Bundestagswahl ist handgemacht: Auf Besuch in Raum 23.2. der Volkshochschule Oer-Erkenschwick.
Au fein!“ Markus Möller ist ganz aus dem Häuschen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat gerade außer Haus den perfekten Kartoffeldruck hingelegt. Auf den Tisch der Volkshochschule (VHS) Oer-Erkenschwick am nördlichen Rand des Ruhrgebiets. Oer-Erkenschwick ist eine kreisangehörige Stadt des Kreises Recklinghausen im Regierungsbezirk Münster. Auch hier wird inmitten des Karnevals, der in Oer-Erkenschwick im Gegensatz zum zugeknöpften Münster flott begangen wird, bundestagsgewählt – wie überall in Ost und West am 23. Februar.
Und deshalb ist Markus Möller hier in der VHS Oer-Erkenschwick. Weil er seine „staatsbürgerlichen Pflichten“ erfüllen will, wie er uns überzeugend vermittelt. Der bunte Kartoffeldruck ist wirklich sehr schön. Doch was hat er mit der kommenden Großwahl zu tun?
„Lassen Sie mich zuerst erklären“, bittet Möller, der im Hauptberuf mehrfacher Freier Tankstellenbesitzer ist, „dass das ‚e‘ in Oer ein niederdeutsches Dehnungs-e ist. Oer wird wie ‚Ohr‘, nicht wie ‚Ör‘ ausgesprochen, verstehen Sie: Ohr-Erkenschwick. Ohr!“ Wir nicken mit dem Kopf.
Dann fragen wir Möller, 56, was er als mehrfacher Freier Tankstellenbesitzer in diesen turbulenten Zeiten mit Kartoffeldruck am Hut beziehungsweise an seiner übergroßen schwarzen Baseball-Kappe hat. Der gebürtige Oer-Erkenschwicker („in sechster Generation!“) nickt verständnisvoll.
„Wissen Sie, es geht um Zukunft. Um Zukunft in und für Deutschland! Und dafür haben wir bekanntlich nicht genug Papier von Staats wegen, wissen Sie doch auch.“ Wir nicken erneut. „Tja, und deshalb bin ich hier in der VHS! Wir bauen uns unsere Stimmzettel selbst, damit wir morgen noch frei tanken und weit fahren können!“
Tatsache. Im rückwärtigen Bereich des Raums Nummer 23.2. im zweiten Stock der verwinkelten VHS Oer-Erkenschwick, die im Erdgeschoss die delikat dekorierte Pizzeria da Fred beherbergt, schnitzen Manja Wüllmann und Christine Obacht schon seit Kursbeginn flink fleckige Kartoffeln von Nahkauf druckfertig.
„Hier eine filigrane Fielmann-Brille, die steht für den Fotzenfritz“, erklärt Christine Obacht, „entschuldigen Sie, nein, also die Brille steht für eine Stimme für Friedrich Merz, die wird dann in schwarzem, rotem oder goldenem Kartoffeldruck angeboten. Und darunter drucken wir für die Zweitstimme ‚CDU‘, also seine Partei. Weil, man kann den Kanzler gar nicht direkt wählen, auch nicht am 23. Februar. Das wissen Sie, ja?“ Wir nicken erneut mit dem Kopf.
Brillen auf Büttenpapier
Als Unterlage für die kartoffelgedruckten Fielmann-Brillen dient handverlesenes Büttenpapier aus einer Papiermühle in Kleve am linken Niederrhein. Feine Sache das, aber ist das denn alles so mit der Bundeswahlleiterin Dr. Ruth Brand abgesprochen?
„Aber sicher!“, ruft der mehrfache Freie Tankstellenbesitzer Markus Möller, „wir sind hier in Oer-Erkenschwick ab sofort ‚Modellwahlbezirk‘, wir haben von der Frau Doktor und ihrem Team aus Wiesbaden gestern ein 232 Seiten starkes Teil geschickt bekommen. Darin wird erklärt, wie das mit rechten und linken Dingen nächstes Jahr zugeht. Gucken Sie!“
Er hält uns die schwere, mit vielen Fragezeichen bedruckte Kladde freudig hin. Wir kommen ins Blättern. Tatsache. Da steht es auf Seite 16, Punkt 12: „In der Bundesrepublik Deutschland besteht seit der Wahl vom 15. September 1957 (Erweiterung des Wahlgebietes auf das Saarland) die Möglichkeit der Wahl nicht nur durch persönliche Stimmabgabe im Wahllokal, sondern auch durch Briefwahl. Aufgrund des vorgezogenen Bundestagwahltermins 2025 und bundesweiter Papierknappheit, die nicht von Pappe ist, kommen bei der Wahl zum 21. Deutschen Bundestag erstmals diverse alternative und selbst hergestellte Stimmzettel zum Einsatz. Diese Zettel sind bis auf wenige Ausnahmen ausnahmslos gültig, sowohl beim Einsatz im Wahllokal als auch bei der Briefwahl im In- und Ausland.“ Tatsache, diese Drucksache.
Wir lesen weiter, was Dr. Ruth Brand und der stellvertretende Bundeswahlleiter Heinz-Christoph Herbertz bezüglich der korrekten kreativen Ausgestaltung der Stimmzettel schreiben:„Solange auf der linken Seite des in freier Entscheidung selbst hergestellten Stimmzettels eine linke Spalte sichtbar ist zur Kennzeichnung der Erststimme, mit der eine Wahlkreisabgeordnete oder ein Wahlkreisabgeordneter gewählt wird und solange auf der rechten Seite des in freier Entscheidung selbst hergestellten Stimmzettels eine rechte Spalte sichtbar ist zur Kennzeichnung der Zweitstimme, mit der die Landesliste einer Partei gewählt wird, ist der Stimmzettel gültig. Für die Gültigkeit des Votums ist jede handwerkliche Technik erlaubt, außer Zaubertinte auf Löschpapier. Des weiteren sind jegliche Makramee-Techniken, sogenannte ‚Geknüpfte Stimmzettel‘, illegitim. Dazu zählen auch beschriftete Traumfänger der ‚Letzten Generation‘. Kompostierbare sowie nachhaltig selbst gewonnene Stimmzettel der Energieffizienzklasse A und A+ sind, solange sie keine weiteren Meinungsäußerungen enthalten, dagegen zugelassen.“
Stimmzettel aus Esspapier
Wir nicken und blättern weiter, als uns Stimmzettelherstellungshelferin Manja Wüllmann auf die Schulter tippt. „Wollen Sie mal kosten? Hier, lecker Esspapier! In Grün, in Braun und in Sahra!“ Wir winken danken ab, da wir die erkennbar anstrengende kreative Fließbandarbeit im Raum 23.2. der VHS Oer-Erkenschwick nicht über Gebühr stören wollen.
Markus Möller, so hören wir es lautstark, telefoniert derweil mit der Kreiswahlleitung Wuppertal. Hier kommt man wohl miteinander ins Geschäft, denn die Wuppertaler sind ob der Selbstausrufung des amtierenden Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang zum CDU-Bundestagskandidaten im Wahlkreis Wuppertal I anscheinend heillos überfordert mit der Papierproduktion.
Seitdem die Schöpfungsketten der Mühlen an der Wupper in der einst reichen jetzt darbenden Stadt darniederliegen, „gibt es nur noch in Wuppertal-Elberfeld einzelne Zellstoff- und Holzschliffrestbestände“, weiß der begeisterte Kartoffeldrucker nach dem Telefonat zu berichten. Ein lukratives Win-win-Geschäft für die VHS-Gruppe aus Oer-Erkenschwick, denn die Wuppertaler zahlen mit lebenslangen Tickets für die Schwebebahn.
Unser Aufenthalt im Kartoffeldruckraum 23.2. neigt sich dem Ende zu, als plötzlich Olaf Scholz, der Noch-Kanzlerkandidat der SPD, im von ihm ausgewählten Türrahmen steht. „Ich bin hierher gekommen, um Bürgerinnen- und Bürgernähe zu suchen.“ Der Claim sitzt leider immer noch nicht. Aber Scholz will wenigstens „schon mal für die Kollegas der Hamburger Bürgerschaftswahl am 2. März kreative Ideen auf dem Papier mitnehmen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?