Die Wahrheit: Runterspringen und Rauflaufen
Recklinghausen ist kein gutes Pflaster. In Bayern jedoch kommt man hoch hinaus. Wie auch immer.
N a, wie war’s im Urlaub?“ – „Jo, bin wo runtergesprungen.“ – „Ah, cool. Mit Seil?“ – „Jo, mit Seil.“ – „Von der Brücke?“ – „Jo, von der Brücke.“ – „Wie war’s?“ – „Hoch. Voll hoch.“ – „Ja krass. Hey, da kommt Daniel. Hey Daniel, wie war’s im Urlaub?“ – „Sehr cool. Bin wo runtergesprungen.“ – „Ach, krass. Auch mit Seil?“ – „Nee, mit Fallschirm.“ – „Cool. War hoch?“ –„Voll hoch.“ – „Sehr cool. Auch von der Brücke?“ – „Nee, aus Flugzeug.“ – „Krass, cool. Ich war mal in Australien.“ – „Und?“ – „Bin da auch wo runtergesprungen.“ – „Brücke?“ – „Kran.“ – „Krass, sehr krass.“ – „Und hoch.“
Dieses Gespräch hat sich jüngst genauso oder ähnlich in meiner Nähe zugetragen, aber derlei Dialoge werden tagtäglich im ganzen DACH-Raum geführt, der Deutschland, Austria und die Chweiz umfasst. Und wer in diesem Dramolett nicht sich selbst, sondern nur einen depperten Bekannten wiedererkannt hat, sollte mit Spott noch warten, könnte er doch zu einer Gruppe gehören, die diesen Dialog halbjährlich in folgender Variation führt:
„Und, wie war’s im Urlaub?“ – „Jo, bin wo raufgelaufen.“ – „Voll gut. In Österreich?“ – „Jo, in Österreich.“ – „War gut?“ – „Voll gut. Und voll hoch. Und du?“ – „Joa, bin auch wo raufgelaufen.“ – „Echt? Voll gut. Auch Österreich?“ – „Bayern. Auch voll hoch.“ – „Cool, voll gut.“
Zu belauschen, wie ausdauernd Menschen darüber quasseln können, irgendwo runtergesprungen oder hochgelaufen zu sein, ist aufregender als das Springen selbst. Wäre das Bungeespringen eine Seltenheit, wie es früher vielleicht der Fall gewesen sein mag, oder bedürfe es irgendwelcher besonderer Talente, verstünde ich ja die Begeisterung, die Partygäste einander mit derlei Anekdoten aus dem Gesicht pressen.
Kassel, Kiel, Recklinghausen
Aber es bedarf nun mal keiner Talente, ein jeder kann sich irgendwo runterfallen lassen und das mittlerweile auch überall. „Bungee Jumping Kassel“, „Bungee Jumping Kiel“ und „70 Meter Bungee Sprung über einem Parkplatz am Hafen von Recklinghausen“ waren nur die ersten Ergebnisse einer Google-Suche, die mehr Fragen als Antworten lieferte. Den Wunsch, in Recklinghausen zu springen, kann ich ja noch nachvollziehen, aber Bungee? Gern lehne ich mich hier ohne Sicherungsseil weit aus dem Fenster und behaupte: Wer in Recklinghausen springt, der möchte auch aufschlagen.
Doch man kann’s den Leuten ja nicht verbieten. „Laut einer Statistik beträgt die Todesrate beim Bungee Jumping nur 1:500.000“, las ich während meiner Googelei en passant auf der Homepage lebegeil.de.Um welche Studie es sich handelt, verheimlicht uns die Seite zwar, aber es ist davon auszugehen, dass Lebe-geil-Leser zu derlei Quellenprüfung weder Lust noch Zeit haben, sind sie doch zu sehr damit beschäftigt, die neuesten Blog-Einträge zu studieren, wie etwa „Die 25 besten Ausflugsziele in Mannheim“ oder „22 geniale Indoor-Aktivitäten in Oberhausen“.
O je, da laufe ich ja lieber noch irgendwo hoch.
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