Die Wahrheit: Der Name der Ente
Als Kind war er so spirkelig, dass seine Mutter einen Trick ersann, um ihn zu füttern und immer wieder zu füttern – bis es aus ihm herausbrach …
Ich war ein dünnes Kind. Freunde und Bekannte, die mich damals noch nicht kannten, halten das für Fake News. Es stimmt aber. Ich war in Berlin-Lankwitz, wo ich aufwuchs, bekannt als der Knabe, hinter dem die Mutter mit einer Stulle herlief. Wenn ich unterwegs irgendetwas mit offenem Mund bestaunte, schob sie mir Brot hinein.
Etwas subtiler war der Trick mit dem Blechteller und den drei Enten. Die Vögel waren auf dem Boden des Tellers aufgedruckt, und um sie zu sehen, musste ich den Brei aufessen. „Noch ein Löffel, und wir können Eulalie sehen“, ermutigte mich meine Mutter. Ein weiterer Löffel, und Genoveva würde auftauchen. Es klappte, bis ich überlief und den Brei wieder auskotzte, was meine Mutter in die Verzweiflung trieb.
Ich musste jeden Abend auf die Waage. Andere Eltern maßen das Wachstum ihrer Sprösslinge mit Strichen an der Wand, ich bekam einen Eintrag in die Wiegekarte, die eigentlich für Babys bis zum Alter von zwölf Monaten vorgesehen ist.
Neulich, beim Aufräumen, fiel mir der Blechteller wieder in die Hände. Er ist zwar etwas verrostet, und die Enten sind ziemlich verblasst, aber noch gut sichtbar. Eulalie und Genoveva erkannte ich sofort. Wie aber hieß die dritte Ente? Ich rief meine Mutter an. Sie ist inzwischen 95 Jahre alt, aber geistig fit. „Euphrosine“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen.
Wie ist sie bloß auf die Namen gekommen? „Eulalie“ heißt ein Gedicht von Edgar Allan Poe. Er hatte den Namen gewählt, weil er den Buchstaben L liebte. Seine Frauengestalten hießen Annabel Lee, Leonore, Ulalume. „Genoveva“ hingegen, deren Name auf das walisische Gwenhwyfar zurückgeht, was „schönes Gesicht“ bedeutet, war eine heilige Jungfrau aus dem 5. Jahrhundert, sie ist Schutzpatronin von Paris.
Und „Euphrosine“ ist eine Oper des französischen Komponisten Étienne Nicolas Méhul, sie wurde 1790 in Paris uraufgeführt. Meine Mutter hatte damals mit Sicherheit noch nie von Poe oder Gwenhwyfar gehört, und von Méhul vermutlich bis heute nicht, was aber keine große Wissenslücke ist.
Ich rief sie erneut an und fragte nach. Ihr Vater, der Ingenieur bei einem großen Elektro-Unternehmen war und sich stets ordentlich mit Anzug und Krawatte kleidete, habe ihr, als sie Kind war, Geschichten erzählt, in denen die drei Namen ständig vorkamen, sagte sie: „Und die Namen habe ich mir gemerkt.“ Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht als Mädchen geboren wurde, da ich in dem Fall wohl einen Entennamen hätte.
Neulich habe ich meine Mutter wieder mal in Berlin besucht. Ihre Freude hielt sich in Grenzen. „Meine Güte, bist du dick“, jammerte sie. „Eines Tages wirst du platzen. Und wer kümmert sich dann um meine Angelegenheiten?“ Meine Ausrede, dass ich endlich meine Magersucht überwunden habe, ließ sie nicht gelten. Man kann es ihr einfach nicht recht machen.
Die Wahrheit auf taz.de
Leser*innenkommentare
Jeremias Schrumpelhut
Als ich ca. 10 war, wurde ich auf ärztliche Verordnung hin für vier Wochen in ein "Erholungsheim" für Kinder der Inneren Mission verfrachtet, um mein klappriges Gestell mit etwas Substanz anzufüttern – was aufgrund der "Qualität" des dort verabreichten "Essens" gründlich mißlang. Das Gewichtsthema hat sich später natürlich umgekehrt, und vor zwei Jahren war ich auf 105 kg, als mich eine ziemlich fiese Krankheit für Monate ins Krankenhaus und zu 20 Operationen zwang, woraus ich mit rund 60 kg hervorging. Hätte ich nicht mit 105 angefangen, hätte ich das nicht überlebt. Man sieht: Es ist nichts so schlecht, daß es nicht für irgendwas gut ist ...
Willi Müller alias Jupp Schmitz
...und wie man als spirkeliges Kind vom Namen der Rose zum Namen der Ente kommt, sollte denn für immer ein Rätsel bleiben...
Lowandorder
Tja - ein Löffelchen für Ralle - ein Löffelchen für …🦆🦆🦆
Ach härm. …a never ending story - wa!
& Däh!
“Etwas subtiler war der Trick mit dem Blechteller und den drei Enten. Die Vögel waren auf dem Boden des Tellers aufgedruckt, und um sie zu sehen, musste ich den Brei aufessen. „Noch ein Löffel, und wir können Eulalie sehen“, ermutigte mich meine Mutter. Ein weiterer Löffel, und Genoveva würde auftauchen. Es klappte, bis ich überlief und den Brei wieder auskotzte,…“ Genau Genau!
“Soweit war ich auch schon mal!“ sagte der Mitreisende im Speisewagen!
Nur war da statt Euphrosine n plattgequetschter 🐸 aufgetaucht! - 🙀🥳🤮 -
Danke for assist - wa!
unterm—-Reminiszenz —-
Gehungert hab ich nicht - aber meine Tante Klärte!
Erklärte denn doch - wie „Schiebewurst“ geht!
& ming Mouder? =>
“Gibt es eigentlich mal ein Foto von dir.
Auf dem du nicht isst!“
& =>
Die Spätfolgen gleichen sich scheint’s.
Nur mit dem dick/korpulent …selbst pc-lern.
Klappt‘s nicht so recht.
(Theorie über die Frühbildung der Fettzellen?
Who know’s?! Woll. ;))
Willi Müller alias Jupp Schmitz
@Lowandorder Und ich dachte schon, die Mutter von Ralf hatte den Ententrick in weiser Voraussicht auf den "Gran Duque d'Alba" pädagogisch eingesetzt...🐥🐤🐣