Die Wahrheit: Fingerzeige in den Familienexzess
Tagebuch einer Aufbewahrerin: Wer mit schlimmem Finger Auto fährt, findet sich nicht selten inmitten lauter Kartons aus der Vergangenheit wieder.
K urz vor Jahresende war ich wegen einiger Veranstaltungen im schönen Hamburg, wo Bürgerämter so geschmiert laufen wie frisch geölte Kugellager, die Elphi im Unterschied zum BER funktionierende Laufbänder hat und wortkarge Hanseaten ihre Vokabeln anders als die Hauptstadtbewohner für freundliche Ansprache nutzen. Ich glitt perfekt betreut durch Viruswelle, Kinosäle und Ausstellungseröffnungen und hatte pünktlich zum Tag meiner Rückreise die Härten des Berliner Lebens vergessen.
Die Realität hatte mich schon beim Zuknallen des Kofferraums wieder, denn dabei störte mein Zeigefinger. Heldinnenhaft ignorierte ich das obszön anschwellende Ding und fuhr los, am nächsten Morgen wartete schließlich ein Redakteur auf meinen erst halb fertigen Text. Zuvor jedoch wartete auf der Autobahn die berüchtigte „Ölspur auf der Fahrbahn“, und kaum ließ man mich für ein paar Kilometer zurück auf die Strecke, überraschten inkompetente Verkehrsplaner mit einer „Vollsperrung wegen Bauarbeiten“. Das Navi rödelte orientierungslos im meckpommschen Nirgendwo, während mein Display den Ausfall eines Scheinwerfers meldete. Im vernieselten Halbdunkel kroch ich auf klandestinen Wegen nach Berlin, allerdings, wie ich bei Ankunft feststellte, ohne mein Laptop, das es vorgezogen hatte, in Hamburg weiter auf dem Sofa meiner Gastgeberin herumzulungern und zusammen mit dem Text Ferien von mir zu machen. Die Freundin mailte ihn mir aufs Handy, und ich verbrachte die Nacht damit, die beim Redigieren mit dem Monsterfinger gelöschten Absätze wiederherzustellen.
Zu irgendwas musste dieser Höllentag gut gewesen sein. Ich beschloss, zusammen mit dem Laptop endlich die zehn in einem Hamburger Keller modernden Umzugskartons voller Fotos und Korrespondenz meiner Sippe heimzuholen und sie mit den bereits acht Kisten aus meinem eigenen Leben zu vereinen. Glücklich vermengten sich haufenweise Postkarten, Urgroßeltern- und Urlaubsfotos zu einer lückenlosen Familienbiografie, und hätte ich je bezweifelt, Spross meiner exzessiv ihr Dasein dokumentierenden Mischpoche zu sein …, meine Aufbewahrungsleidenschaft spricht eine klare Sprache.
Inmitten von Bildern wilder Karnevalsfeiern fand ich ein Frühwerk aus eigener Produktion. Es zeigt meine Großmutter – zu diesem Zeitpunkt eine in Würde ergraute Siebzigjährige – mit Schleifen im langen braunen Haar und in tief ausgeschnittenem durchsichtigem Gewand, unter dem sich deutlich ein schiefer Busen inklusive Nippel abzeichnet. Aus schwarz umflorten Augen starrt sie den Betrachter an wie Asta Nielsen auf Crack, in der Hand hält sie … Luftballons? Lollis?
Ich war ein begabtes Kind. Im Berg der Hinterlassenschaft schlummern vielleicht noch mehr Trouvaillen aus meiner künstlerischen Vergangenheit, mit Disziplin könnte ich in einigen Monaten weitere Highlights meines Schaffens präsentieren.
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