Die Wahrheit: Die Nacht der Radieschen
Bei der mexikanischen „Noche de Rábanos“ wird hemmungslos der Todesmystik des Garten-Rettichs gehuldigt.
Um der jahreszeitlich bedingten Überzuckerung endlich etwas entgegenzusetzen, kommt jetzt etwas Scharfes: Die mexikanische Stadt Oaxaca de Juárez feiert einen Tag vor Heiligabend die „Noche de Rábanos“ – die Nacht der Radieschen. Diese nahrhafte Nutzpflanze aus der Familie der Kreuzblütengewächse ist auch bei uns keine Unbekannte. Allerdings kommt sie überwiegend in der Verkleinerungsform daher, und „Radi“ – wie in dem Uralt-Fußballschlager des Torhüters Petar „Radi“ Radenković „Bin i Radi, bin i König“ – ist keineswegs das Mutterwort, sondern bayerisch für Rettich.
Selbstverständlich müssen in einem Land mit einer ausgeprägten Todessehnsucht die Feiertage mit ebendiesem Thema etwas zu tun haben: Das beste Beispiel ist der „Día de los muertes“ am zweiten November. Dann greift natürlich die Redewendung „sich die Radieschen von unten besehen“, und tatsächlich hat die Bevölkerung von Oaxaca im Mai 2006 ein Trauma erlebt, als Polizeikräfte unter den Demonstranten gegen einen Großflughafen ein Massaker anrichteten.
Der Tod ist in Mexiko allgegenwärtig, nicht zuletzt wegen der Drogenkartelle. Der Bundesstaat Oaxaca ist führend bei indigenen Bevölkerungsgruppen, vor allem Zapoteken, Mixteken und Scharteken sind hier zu finden, gleich nebenan in Chiapas sind die aufmüpfigen Zapatisten zu Hause. Ein radikal heißes Pflaster also.
Unfreiwillig eingeführt
Die „Radieschennacht“ erinnert an die unfreiwillige Einführung der Gemüsesorte durch die Spanier im 18. Jahrhundert, als beim Transport vom Hafen Puerto Pendejo an der Golfküste nach Oaxaca in der Sierra de Pinche eine Kiste Radieschen von einem Maulesel kippte und mehrere Pärchen entkommen konnten, die sich bei günstigen klimatischen Bedingungen rasend schnell vermehrten.
Längst hat das Radieschen die einheimischen Herzen erobert, und extra für die „Noche“ schnitzen sie Heiligen- und Krippenfiguren ganz aus den rattenscharfen Wurzeln. Der Brauch soll auf die Marktbeschicker der Hauptstadt zurückgehen, die der Langeweile vorbeugen wollten. Bei Devotionalien blieb es nicht, es gibt auch Figuren von Drogenbossen, die sich recht großer Beliebtheit erfreuen, selbst wenn dieser Bundesstaat nur wenig narcotraficantes beherbergt. Trotzdem hat Netflix eine „Noche“-Serie über die Machenschaften der Radieschenmafia angekündigt, wenn sämtliche Ableger von „Narcos“ ab- und weggedreht sind.
Filigrane Modelle
Absoluter Clou ist allerdings eine öffentlich zugängliche Modelleisenbahn, die sich großer Beliebtheit erfreut: Jährlich pilgern deswegen Hunderttausende nach Apetitlán, prominentester Besucher soll Deutschlands Modellbahnexperte Don Horst Seehofer gewesen sein. Gebäude, Bäume, Buschwerk, Besucher – die filigranen Arbeiten haben noch jeden in den Bann gezogen. Die Radieschen werden eigens für Anlässe wie diese gezüchtet, erreichen stellenweise sogar die Größe von Kartoffeln und werden mit farblosem Nagellack haltbar gemacht.
Die „Noche“ wird traditionell auf dem zentralen Platz der Hauptstadt, dem Zócalo, gefeiert, ein riesiges Volksfest, früher noch mit Feuerwerk, was heute leider verboten ist – nicht einmal wegen Corona. Die Einheimischen haben einfach zu viel Angst vor Geballere jeglicher Art, was jederzeit panische Momente triggern kann. Leider sorgen Radieschen nach dem Verzehr – einige können sich einfach nicht zurückhalten und putzen die Kunstwerke einfach so weg, für erhebliche Blähungen. Auch diese werden von der Urbevölkerung nicht gern vernommen. Andererseits reduzieren Radieschen den Blutzuckerspiegel und decken 30 Prozent des Bedarfs an Vitamin C und 12 Prozent des Tagesbedarfs an Eisen, und in diesem Fall sind keine Schießeisen gemeint.
Mit genügend Vitamin B im eigenen Radieschenkopf kriegt man sogar einen Stand auf dem Zócalo. Zeit, das Radieschen bei uns ins Feiertagsrampenlicht zu rücken. Felicidades, Oaxaca!
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