Die Wahrheit: Der pelzdaunenreiche Tauchjesus
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (132): Die Wasseramsel ist eine singuläre Erscheinung und kann sogar unter Wasser laufen.
Als Kind hatte ich die Zeitschrift Der kleine Tierfreund abonniert. Einmal konnte man darin eine Reise in die Serengeti gewinnen. Dazu musste man die Namen von 20 verrätselten Tieren herausfinden, einen Aufsatz über sie schreiben und ein Bild von ihnen malen. Am schwierigsten war es für mich, auf die verrätselte Wasseramsel zu kommen, von der keiner in meiner Umgebung jemals gehört hatte. Sie läuft auf dem Grund von Bächen, um dort nach Nahrung zu suchen. So ähnlich wie die Amseln auf dem Rasen. Beide suchen Insekten und Würmer, die Wasseramsel dazu noch kleine Fische.
„Als Standvogel stürzt sie sich auch in eiskalte Fluten“, schreibt der BUND. Einen „Unterwasserjäger“, nennt sie Geo. Seit ich die Wasseramsel enträtselte, auch ohne eine Serengeti-Safari zu gewinnen, bin ich ein Bewunderer dieses Vogels, den ich bis heute noch nirgendwo gesehen habe, obwohl er in etlichen Fließgewässern vorkommen soll. Das geht vielen so. In „Jasper und sein Knecht“ (2016) schreibt der holländische Autor Gerbrand Bakker, der in der Eifel wohnt: „Aus dem Augenwinkel entdecke ich im Bach den Vogel, nach dem ich schon zweieinhalb Jahre Ausschau halte. Die Wasseramsel.“
Sie ist die einzige Vertreterin der Familie der Wasseramseln. Das klingt zwar tautologisch, weist aber darauf hin, dass die Wasseramsel eine quasi singuläre Erscheinung ist, auch wenn sie zu den nicht gefährdeten Arten zählt. „Sie ist einzigartig unter den Singvögeln, da sie fliegen, schwimmen, tauchen und sogar unter Wasser laufen kann“, heißt es auf dem Eifelportal „life-baeche“. Der Nabu in Mosbach schreibt: „Sie sind die besten an ein Wasserleben angepassten Singvögel.“
Man hört und liest nur Gutes über die Wasseramsel. Höchstens, dass die Angler gelegentlich maulen: „Die frisst uns die ganzen Jungfische weg!“ Aber beweisen können sie das nicht, denn sie haben auch noch nie eine Wasseramsel gesehen. Kommt noch hinzu, dass die meisten Menschen heute nur noch aus reinem Vergnügen angeln, während die Wasseramseln davon leben, also moralisch im Recht sind.
Markgefüllte Knochen
In dem von der Vogelwarte Sempach herausgegebenen Handbuch „Die Vögel der Schweiz“ erklären die Biologen, was dem vermeintlichen „Fischereischädling“ die Unterwasserjagd erleichtert: „Schwere, markgefüllte Knochen, kurze, rundliche Flügel und ein pelzdaunenreiches Gefieder. Das Auge wird unter Wasser durch eine halbtransparente Nickhaut geschützt und das Ohr durch eine Hautfalte verdeckt.“
Die Wasseramsel lebt an schnell fließenden, klaren Gewässern, an deren Ufern sie auch brütet. Das jeweilige Gewässer ist und bleibt ihr Revier, nur wenn es zufriert, treibt es sie ein Stück weiter nach Südwesten. Bei den wegen des Frostes aus dem Osten bis zu uns ausweichenden Wasseramseln handelt es sich „merkwürdigerweise“, dem natur-lexikon.de zufolge „vor allem um weibliche Vögel.“ Dies lasse den Schluss zu, dass die Männchen, solange sie können, ihr Revier behüten, das heißt die Weibchen kehren nicht in ihr Revier, sondern in das der Männchen zurück. Die „relative Partnertreue“ ergibt sich durch Festhalten am angestammten Revier.
Dazu fand ich jedoch keinen Hinweis, obwohl alle deutschen Mittelgebirgsregionen und viele Städte im Internet „Wissenswertes“ über „ihre“ Wasseramseln mitteilen. Fast schämt man sich, noch keine gesehen zu haben, zumal die Wasseramsel „Vogel des Jahres 2017“ war. Der Regionalverband Harz schreibt auf seiner Internetseite: „Das Männchen versucht das Weibchen mit eindrucksvollen Imponierflügen, -tauchgängen, Tänzen und Gesang zu betören. Stimmt das Weibchen in den Hochzeitsgesang ein und akzeptiert die dargebotenen Speisen, steht der Familiengründung nichts mehr im Wege. Allerdings sind Möglichkeiten zum Nestbau in Felsnischen und an Steilufern rar geworden.“ Bei Flussbegradigungsmaßnahmen hat man ihnen stellenweise künstliche Bruthöhlen angeboten.
Beutereicher Abschnitt
Dem Innsbrucker Alpenzoo gelang 1983 die weltweit erste Handaufzucht von Wasseramseln. Die Vögel verfügen über ein reichhaltiges Stimmrepertoire, ihre Rufe und Gesänge werden jedoch oft von dem lauten Geräusch ihres Lebensraumes übertönt. „Während der Mauser ist die Wasseramsel zwar flugfähig, ihre Manövrierfähigkeit ist jedoch eingeschränkt, deswegen hält sie sich sehr verborgen und verbleibt meist in einem kleinen, besonders beutereichen Abschnitt ihres Reviers“, heißt es auf Wikipedia, wo auch noch erwähnt wird, dass ein Paar 0,4 Hektar untiefes Wasser beansprucht.
Gute Wasseramselgebiete weisen etwa ein Brutpaar auf einen Kilometer Gewässer auf. Am Bach des englischen Farmers und Historikers John Lewis-Stempel ernähren bereits 200 Flussmeter ein Pärchen, ihre Nahrungsbeschaffung ist anglerähnlich, schreibt er in seinem Buch „Ein Stück Land“ (2017): Sie packen den gefangenen Fisch am Schwanz und zerschlagen seinen Kopf auf einem Stein.
Im Osten, bis hin nach Kamtschatka und Taiwan, überlappt sich ihr Verbreitungsgebiet weiträumig mit dem der Flusswasseramsel, die auch Pallasamsel genannt wird – zu Ehren des russischen Naturforschers Peter Simon Pallas, der auf seine alten Tage ein Haus in Berlin bezog, wo jetzt die taz auf ihre alten Tage in der Friedrichstraße ihr neues Redaktionsgebäude errichtete.
Bäche und Flüsse
Die Flusswasseramsel ist zwar größer, verträgt sich aber mit der Wasseramsel, die bis an die Zuflüsse des Baikalsees siedelt. Hierzulande überlappen sich ihre Reviere mit der Gebirgsstelze, die jedoch in flachem Wasser Insekten jagt und von Wald gesäumte Bäche bevorzugt, die von der Wasseramsel eher gemieden werden. Ihre bevorzugten Lebensräume sind Bäche und Flüsse der „Forellenregion“, nur selten dringt sie in die „Äschen- und Barbenregion“ vor.
1963 wurde die Wasseramsel durch eine Volksabstimmung zu Norwegens „Nationalvogel“ ernannt. Finnische Ornithologen weisen jedoch darauf hin, dass zwar nur etwa 350 Wasseramsel-Paare in Finnland leben, aber zum Überwintern kommen bis zu 10.000 dieser Vögel aus Nordnorwegen ins Land. Wenn man weiß, wie lang die Winter in Skandinavien sind, könnte man also auch sagen, dass dieser etwa starengroße, dreifarbige Vogel eher in Finnland beheimatet ist. Aber man geht immer vom Brutplatz aus.
Der Herrmann-Hesse-Stipendiat Wulf Kirsten veröffentlichte ein „Gespräch“ mit der Wasseramsel, darin heißt es: „Kaum hatte ich die Stadt Calw betreten und den Fluss im Blickfeld, meinte ich eine Schwalbe in den Wassermassen absaufen zu sehen. Aber der Vogel hatte mich genarrt, denn er tauchte wieder auf – nach geraumer Zeit. Da wusste ich, die heimliche Wasseramsel probt ihre Urbanisierung. Fortan sah ich flussauf, flussab Wasseramseln schwirren, im Mühltunnel verschwinden, Tauchkünste vollführen, Junge füttern. Eines Tages sah ich die Brut aufschwirren, dicht über den Spiegel hin schießen, schwalbenähnlich, aufgestoben, stadtaus an stillere Flussstrecken. Einmal, eines Morgens, und dann nicht wieder. Ich stand an der Brückenbrüstung neben der Kapelle, sah auf die Flusssinsel, von der aus Hesse ins Wasser gesprungen war.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland