Die Wahrheit: Das Kreuz mit der Otter
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (135): Früher heftigst bejagt, kommt die heimische Giftschlange heute in Sonderbiotopen unter.
Früher habe ich auf dem Land manchmal Kreuzottern gesehen, die jemand getötet hatte. Mein Vater hat dagegen lebende Ottern, die sich am Rand „unseres“ Moores sonnten, mit einem Stock in einen Eimer gedrängt und in den Wald getragen, wo er sie frei ließ. Dort wurde etwa einmal im Jahr ein Blaubeerensammler von einer Kreuzotter gebissen. Man stirbt daran aber nicht. Zudem gibt es seit den dreißiger Jahren ein Serum gegen das Gift.
Die Kreuzottern sahen wir mit der Zeit immer seltener, was wir uns mit dem Vordringen der Siedlungen erklärten. In unseren Augen war die Kreuzotter eine Kulturflüchterin, sie gilt jedoch als Kulturfolgerin.
Faunenelement oder Glazialrelikt?
Auf der Internetseite des sächsischen Nabu heißt es über ihr Habitat: „Die Hauptverbreitung der Schlange entspricht der Verbreitung der azidophilen Zwergstrauchheiden auf Moor- und Podsolböden. Während im Tiefland mehr oder weniger ausschließlich die verbliebenen Moorgebiete mit ihren Grenzbereichen bewohnt werden, siedelt die Kreuzotter im Mittelgebirge in einer breiten Palette von Biotoptypen. Infolge der Waldbewirtschaftung [durch Kahlschlag u.a.] konnte sie hier viele weitere Lebensraumtypen erobern. Trotzdem zeigen die Habitatpräferenzen der Schlange, dass sie zu Recht in Mitteleuropa als boreales Faunenelement und Glazialrelikt gilt.“
In Sachsen ist die Kreuzotter also ein Glazialrelikt, in Berlin dagegen wie so viele ein Maueropfer: In einem Interview berichtete ein westberliner Tierschützer 1987, man sei mit den Behörden in Ostberlin im Gespräch, „um eine faustgroße Bodenöffnung in der Mauer nahe des Tegeler Fließes zu erreichen, mit dem Ziel, den Kreuzotterpopulationen einen Austausch zwischen Ost und West zu ermöglichen“. 2008 entdeckten Naturschützer ein paar Exemplare im Spandauer Forst. Dort hatte sie bereits Theodor Fontane bemerkt: „Es sind dort Stellen, wo sie so dicht wie Regenwürmer liegen. Diese Stellen kennen die Schlangenjäger ganz genau. Es sind Händler. Solche Kreuzotter hat ihren Wert.“
Künstliche Winterquartiere
Der Umweltökonom Patrick Masius schreibt in seiner Geschichte der Kreuzotter „Schlangenlinien“ (2014): „Wurde ein Bürger für eine getötete Kreuzotter um 1900 mit einer Prämie belohnt, musste er ein Jahrhundert später mit einer Bußgeldstrafe rechnen.“ In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts registrierte der Autor in Deutschland sogar eine „systematische Verfolgung der Kreuzotter“. Während der armen Landbevölkerung einst Kopfgelder für getötete Kreuzottern gezahlt wurden, „erhalten heute Sozialhilfeempfänger einen Euro in der Stunde, um Biotoppflegearbeiten zum Schutz der Giftschlange durchzuführen“. Manche Biotope werden eigens für Kreuzottern angelegt und heißen Kreuzottersonderbiotope. „In einem dieser Biotope am Hohen Meißner in Hessen wurde 1996 das weltweit einzige künstliche Winterquartier für die Kreuzotter angelegt.“
Einen ähnlichen „Wandel im Wert“ erlebten im selben Zeitraum auch Wiesel, Wolf, Sperling, Krähe, Reiher und Maulwurf. Kürzlich wurden auch 128 Feldhamster in Nordrhein-Westfalen ausgesetzt. Beim Wolf, der sich in Deutschland selbst ausgesetzt hat, scheint der normative Wandel allerdings noch im Flux zu sein.
Lauerjäger am Otterstein
Die Kreuzotter ist unterdes so selten geworden, dass kürzlich ein Berliner auf einer Junggesellenabschiedsparty eine kleine Kreuzotter mit einem Regenwurm verwechselte, den er als Mutprobe verschlucken wollte – und von ihr in die Zunge gebissen wurde, die derart anschwoll, dass ihn ein Notarzt versorgen musste.
Die „Geschichte der Kreuzotter“ von Patrick Masius ist vor allem eine Geschichte des menschlichen Umgangs mit dieser Schlange, man erfährt darin nicht allzu viel über ihr Leben. Die Kreuzotter ist bei ihm kein konkretes Individuum, sondern Repräsentantin ihrer Art, ein Abstraktum, das man auch bei Wikipedia findet, wo es heißt: „Die Kreuzotter ist eine kleine bis mittelgroße Giftschlange Eurasiens aus der Familie der Vipern. Sie besitzt von allen Vipern das größte Verbreitungsgebiet und ist die einzige Schlangenart, die auch nördlich des Polarkreises angetroffen werden kann.“ Als „Lauerjäger“ hat sie es vor allem auf Mäuse, Eidechsen und Frösche abgesehen. Das Weibchen brütet seine Eier im Mutterleib aus. „Diese Besonderheit ist ihrer Anpassung an kühle nördliche Habitate geschuldet.“
Die Kreuzottern haben viele Feinde: Jede Menge Vögel, sogar die Haushühner erbeuten gelegentlich eine, und viele Säugetiere, einschließlich Hauskatzen und Igel, werden ihr gefährlich, vor allem Wildschweine. Hauptfeind ist und bleibt natürlich der Mensch, vor allem durch seine Ausbreitung und Umwandlung der Natur in Kultur. Mit den Worten der Neuen Zürcher Zeitung: „Sowohl der qualitative wie auch der quantitative Verlust an Lebensräumen machen ihnen das Leben schwer.“ Trotz Aufklärung, Serum, Schutzgesetzen und Wertewandel tötet der Mensch sie aber nach wie vor auch direkt. Obwohl einige Wissenschaftler, etwa der naturforschende Vater von Alfred Brehm, schon im 19. Jahrhundert darüber aufklärten, dass die Kreuzotter als Mäusejägerin „mehr Nutzen als Schaden bringt“. Dagegen stehen Heerscharen von Gegenaufklärern: Masius erwähnt einen Gedenkstein im Rhöndorf Kaltennordheim, der an ein elfjähriges Mädchen erinnert, das dort von einer Kreuzotter gebissen wurde und starb: „An diesen ‚Otterstein‘ gingen Generationen von Lehrern mit ihren Schülern, um sie über die Schlangengefahr aufzuklären und zur Vorsicht zu gemahnen.“
Aberglaube und Lyrik
Der Philosoph Hans Blumenberg ist pessimistisch, was diese oder die gegenteilige Aufklärung bewirkt, also „dass aus wissenschaftlichen Mitteilungen für die Wahrnehmung gelernt wird. Schließlich geht immer noch die Sonne auf und unter.“
Der eher optimistische Kreuzotternaufklärer Patrick Masius schreibt, dass die Kreuzotter zu der Schlangenart „aufgestiegen“ ist, „über die weltweit am meisten Literatur vorliegt“. Dieses „Schriftgut“ habe jüngst sogar „explosionsartig zugenommen“, wobei „ein Großteil der Autoren den aufklärerischen Duktus und den Kampf gegen den Aberglauben teilt“. Dazu scheint er auch die Genetiker zu zählen, die völlig vom Lebewesen Kreuzotter abstrahieren, aber immer mehr Kreuzotterarten in ihren Sequenzierautomaten „entdecken“ – Aberglaube auf wissenschaftlich höchstem Niveau.
Ganz anders reagierte die Dichterin Miki Sakamoto auf die Kreuzotter. In ihrem Buch „Lichtwechsel“ (2021) heißt es: „Am Pfade/ lag unbeweglich/ die Otter/ Und mein Herz/ raste laut/ vor Freude …“
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