Die Wahrheit: Mobiles Nichts
Tagebuch einer Bahnista: Wenn bei 32 Grad der Zug ausfällt, dann wähnt man sich in Bielefeld. Oder irgendwo im Nirgendwo.
R eisen mit der Deutschen Bahn ist wie Weihnachten: Man wartet gespannt, was das Christkind diesmal bringen wird. In meinem Fall war es auf der Strecke München–Berlin der zurzeit beliebte ICE-Zugausfall. Als Zusatzgeschenk gab es bei 32 Grad einen Ersatzzug in Form eines nicht klimatisierten Interregio aus der frühen Bronzezeit. Auf vorsorgliches und vorsichtiges Nachfragen vor dem Fahrtantritt bestätigte das Zugpersonal mein Ziel. In Würzburg wurde ich allerdings misstrauisch. „Ja, der fährt zuerst nach Hamburg, von da könn’se ja auch nach Berlin“, blaffte die Zugbegleiterin, „und eigentlich müsst’n se nachlösen.“
Beim Halt in Fulda floh ich schweißtriefend in den nächstbesten überfüllten Zug in die Hauptstadt, wo mir im Speisewagen ein netter Herr, der, wie sich herausstellte, beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in der Abteilung Mobiltätsforschung arbeitete, Asyl an seinem Tisch anbot. Wir tauschten Kriegserlebnisse aus Schienenverkehrsschlachten, verglichen Mobilitätsnarben und tranken auf jede ein Bier. Bei der Ankunft verabschiedeten wir uns bedenklich schwankend, obwohl ich gern noch seine Meinung zu einem neuen Mobilitätstrend gehört hätte.
Nach meiner Beobachtung parken in letzter Zeit nämlich besonders besondere Menschen ihre Autos nicht nur in, sondern neben der zweiten Reihe mitten auf der verbliebenen Fahrspur, um dann seelenruhig ihren Geschäften nachzugehen, während das nachdrängende fahrende Volk fluchend auf Lücken im Gegenverkehr hofft.
Wahrscheinlich sind das schon die Vorboten der autofreien Stadt in Form einer „Man muss auch mal loslassen“-Therapie, bei der die Bindung ans eigene Gefährt gelockert wird. Eltern zum Beispiel sollen ja schließlich auch lernen, ihre Kinder kurz vor dem Abitur mal allein zu lassen. Hupen und Zetern focht die Damen und Herren jedenfalls nicht an, nach gefühlten Ewigkeiten kehrten sie zurück und machten sich unbeeindruckt vom Asphalt. Ich kann nichts dafür, aber Frauen waren sogar in der Überzahl und sind leider nicht die besseren Menschen.
Ab und zu ist man allerdings durchaus versucht, sein Auto aus Verzweiflung einfach stehen zu lassen, besonders wenn das Navi einen an Orte zu führen versucht, die es gar nicht gibt. So wie kürzlich im französischen Concarneau, wo es mich beharrlich nach „Bielefeld Senne“ leiten wollte, obwohl jeder weiß, dass das eine Erfindung von Bertelsmann ist, worauf schon die alliterativen Bs und die gleiche Silbenanzahl hinweisen.
Gerade erst hat bekanntlich Bielefeld selbst eine schlappe Million Preisgeld für den Beweis seiner Nichtexistenz ausgelobt. Ich schob alles aufs Navigeschwurbel, bis verblüffenderweise ein Schild auftauchte: „Bielefeld Senne, 1223 km“. Recherchen ergaben, Concarneau hält sich für die Partnerstadt eines Bielefelder Fake-Stadtteils. Was sagt das über Concarneau? Das Nichts, es lauert überall.
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