Die Wahrheit: Zweibiertrinker und Sitzenbleiber
Konsumenten alkoholischer Getränke teilen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen auf, die allerdings wenig miteinander anfangen können.
I n meinem erweiterten Bekanntenkreis gibt es die Fraktion der Zweibiertrinker. Das dritte Getränk ist allenfalls ein Alkoholfreies oder, Superlativ absurder Selbstkasteiung, eine Schorle. Schon das Wort macht keinen Spaß. Bootcamp und Workout sind seine Verwandten.
Zweibiertrinker stellen ab 22.45 Uhr allzu forsches Nachfragen und das Raushauen von steilen Thesen ein, ihr Blick bekommt etwas Traumverlorenes. Sie bereiten strategisch ihren Abgang vor. Pünktlich fünf vor elf folgt das notorische Reiben der Hände an der Hosennaht und – Tschüssikowsky!
Sie sind nicht etwa mit dem Auto da, sie müssen morgen wieder fit sein, geil abliefern, sie sind intellektuelle Hardbodys, Selbstoptimierer der strikten Observanz, und für sie ist ein alkoholinduziertes Leistungsdefizit ein Charakterfehler.
Wir Sitzenbleiber schauen betreten ins fast leere Glas und fühlen uns immer ein wenig zurückgewiesen. Zweibiertrinker haben an unserer Gesellschaft offenbar weit weniger Freude als wir. Es gebe Menschen, so lautet ihr Vorwurf dann auch, die könnten gar nicht einfach nur mal so ein Bier trinken, oder auch zwei, es müsse immer gleich das volle Programm sein. Erbärmlich fürwahr, verachtungswürdig geradezu. Aber wie soll man andererseits Menschen bezeichnen, die das überhaupt nicht können, niemals? Das volle Programm, meine ich.
Denn egal, ob die Gemeinschaft der Süffel gerade dabei ist, die Bedeutung der Schuttrutsche für die abendländische Kulturgeschichte herauszupräparieren oder in schöner Stringenz zu beweisen, dass die Welt ein viel erträglicherer Ort wäre ohne Sülze, Schweißfüße und den HSV – es ist vollkommen egal, fünf vor elf macht der Zweibiertrinker trotz alledem eine Biege. Und wir bleiben wieder mal allein zurück, gezwungen, unsere Enttäuschung mit einer halbstündigen Lästersuada zu kompensieren.
Glücklicherweise gibt es immer noch die anderen. Mein Freund Rüdiger zum Beispiel, ein Epikureer von höchsten Graden, ein Genuss- oder Wirkungstrinker. Eines Abends allerdings tritt er kurz. Wir ziehen die Stirn kraus. Nein, er sei nicht krank, er wolle nur am nächsten Morgen eine mündliche Prüfung bestehen und deshalb ausnahmsweise zur Unzeit gehen. Kurz vor elf. So geschieht es.
Eine halbe Stunde später klingeln wir an seiner Tür, weil unser Kneipengespräch ohne ihn stockt, weil die heilige Kunst der „deductio ad absurdum“ seiner geschätzten Mithilfe bedarf, ach, weil wir einfach ordentlich noch einen mit ihm verhaften wollen. „Ey, nöö, ich hab schon den Schlafanzug an“, greint es aus der Gegensprechanlage. „Wir kommen nicht weiter“, sage ich erregt, „wir brauchen deine Expertise.“
Es herrscht Totenstille am anderen Ende der Leitung, die Sekunden tropfen wie Sirup auf dieses nächtliche Butterbrötchen. Und als wir schon glauben, er hätte sich wieder hingelegt, und enttäuscht abziehen wollen, da posaunt es jerichomäßig aus dem Lautsprecher. „Arschlecken, ich komm runter!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“