Die Wahrheit: Kleben am Brett
Ein Nachruf auf den kurz vor der Schach-Weltmeisterschaft verstorbenen legendären Schachspieler Bernd-Dieter Rammsel.
Der eine bohrt mit einer Black & Decker so viele Löcher so schnell wie möglich durch seinen Kopf, um im Guinness-Buch der Rekorde zu landen. Die andere lässt sich von einer Zementmischmaschine formvollendet zu einem Brei rühren, um endlich von der Welt wahrgenommen zu werden. Wieder andere überqueren zu Fuß den Atlantik oder verspeisen das Rathaus, weil darin ihr schwerstes Talent liegt. Und es gibt Schachspieler. Bernd-Dieter Rammsel war einer.
Nichts in seinen Eltern hatte darauf hingedeutet. Er stammte aus Duisburg, wo es am dicksten ist und noch heute prall nach Menschen riecht. Dort, wo in den angeschimmelten Mietskasernen das Küchenfenster als Außentoilette diente, die Möbel an die Wand gemalt waren und man sich das Abendbrot von den Schuhsohlen schabte, wuchs er als eines von drei oder vier Kindern und Haustieren auf. Später, als seine Schachkarriere bereits am Dampfen war, stellte sich heraus, dass bei seiner Geburt im Jahr 1964 der Nachthimmel ein besonderer war: Der Mond befand sich auf a4, die Venus stand in Opposition auf a6, und die Sonne gab der Erde laufend Schachs von hinten.
Schon in der Wiege, Bernd-Dieter war gerade einmal fünf Jahre alt, sah er zu, als sein Vater eine Partie Schach mit Minka spielte, der Katze der Nachbarin. Die hatte gerade ein Matt in siebzehn Zügen angesagt – da griff das Knäblein ein und zeigte, dass sein Vater einen Zug eher mattsetzen konnte. Die Katze spielte nie wieder mit dem Vater.
Der verdrosch seinen unheimlichen Sohn sicherheitshalber, bis dem die Lunge aus dem Hals herauskam. Weltfußballer war es, was Bernd-Dieter werden sollte, weil er es einmal besser haben sollte als der Vater, der nur untere Kreisklasse kickte. Nie konnte er akzeptieren, dass sein Sohn zwei linke Beine hatte!
Heimlich musste sich Bernd-Dieter die Figuren aus den Knochen des Meerschweinchens schnitzen, das ihm seine Schwester überlassen hatte, und übte verstohlen bis tief unter der Bettdecke, wenn er nachts Meisterpartien nachspielte. Als ihm seine Eltern auf die Schliche kamen, musste ihm die Mutter auf Geheiß des Vaters die Arme auf den Rücken nähen, damit er nicht dauernd Schach spielte. So lernte Bernd-Dieter das Blindspielen.
Für Menschen kein Erinnerungsvermögen
Als seine Eltern schließlich tot waren, konnte er endlich Schachprofi werden, weil man nach deutschem Recht mit dreizehn Jahren straflos ausgeht. Er richtete sich, während sein Körper vom Jugendamt verwaltet wurde, auf den 64 Feldern heimisch ein und konnte bald alle Partien, die je auf dem Globus gespielt wurden, in seinem Kopf stapeln. Für Menschen hatte er dagegen kein Erinnerungsvermögen. Schon Vater und Mutter hatte er nicht auseinanderhalten können, und er konnte sich keine Gesichter merken, wusste nicht mal, wo sich die Gesichter befinden. Seine Merkhilfe: Das Gesicht ist dort, wo im Zentrum auf e4 wie ein Läufer die Nase steht.
Dass er während eines Turniers abmagerte und austrocknete, weil er das Essen und Trinken vergaß und sowieso nicht wusste, wozu Lebensmittel da sind, braucht hier nicht eigens gesagt zu werden. Es bleibe in diesem nüchternen, typischen Tatsachenbericht unerwähnt.
Bernd-Dieter Rammsel lebte von morgens bis morgens das Schach. Er saß länger am Brett, als ein Tag Zeit hat, und führte Selbstgespräche mit den Figuren. Nie suchte er eine zweite Hälfte: Frauen hielt er für eine andere Art Männer. Einmal, in der Partie gegen Großmeisterin Jekaterina Uterowa, passierte es allerdings, dass er seinen Wichsgriffel übers Brett schob; die Großmeisterin parierte kaltblütig und schlug ihn mit der Dame.
Bernd-Dieter roch. Schon als Kind war er vom Schach so gebannt, dass er sich nur wusch, wenn man es ihm sagte, und sich nur ankleidete, wenn die Mitschüler lachten. 2009 zog er sich zur Vorbereitung auf seinen Wettkampf gegen den russischen Weltmeister Alexej Masturbatow für ein halbes Jahr zurück. Als er wiederkam, war die Kleidung an seinem Leib verfault. Spinnen und Ratten wohnten in seinem verklebten Haupthaar, und als er die Arme entschuldigend hob, kletterte schimpfend ein Dachs aus der Achselhöhle. Seinem Trainer, dem ukrainischen Großmeister Jefim Urinowitsch, der ihn sonst fütterte und windelte, hatte er gekündigt, weil ihm dessen goldene Nase nicht schmeckte.
Es gibt Menschen, die leben auf geräuschvollem Fuß und streichen ihre Bedeutung jedermann ungefragt aufs Brot. Im Schach ist man leise wie Staub, der sich auf die Spieler legt. Auch Bernd-Dieter Rammsel war sich selbst genug. Als er im hohen Alter im Kopf kaputtging, war sogar er selbst sich zu viel. Er verhungerte am 1. November 2014 um 17.14 Uhr während eines Turniers am Brett und wurde mit der nicht zu Ende gespielten Stellung begraben.
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