Die Verständnisfrage: Ihr seid zu egoistisch geworden!
Warum behaupten alte Menschen, früher sei alles besser gewesen, fragt ein Leser. Weil es manchmal stimmt, antwortet ein Rentner.
In der Verständnisfrage geht es jede Woche um eine Gruppe, für deren Verhalten der Fragesteller_in das Verständnis fehlt. Wir suchen eine Person, die antwortet.
Uwe Roes, 67, Buchdrucker in Rente aus Bremerhaven, fragt:
Liebe alte Menschen, warum sagt ihr immer noch: „Früher war alles besser“?
***
Gotthard Winkler, 81, pensionierter Polizist aus Berlin, antwortet:
Das sage ich im Grunde immer nur dann, wenn ich es wirklich so empfinde. Das ist also ganz einfach. Denn es gibt verschiedene Situationen, die feststellen lassen, dass das früher einfach besser war.
Etwas, das mir da sofort einfällt, ist die Arbeitswelt. Ich bin froh, dass ich mein Arbeitsleben bereits hinter mir habe. Ich denke zurück an eine Zeit, in der dein Chef noch dein Freund war und an deiner Seite stand.
Ich wohne seit den sechziger Jahren in Berlin, Freunde von mir haben bei Siemens, AEG oder der Zigarettenfabrik Reemtsma gearbeitet. Die Unternehmen waren deutlich sozialer, als sie es heute sind. Da kam es nicht nur auf die Dividende an, die Aktionäre standen nicht im Vordergrund. Siemens hat in Berlin reihenweise Wohnungen für die Arbeiter gebaut, es haben sich Genossenschaften gegründet. Ich muss sagen, da hat der Kapitalismus seine gute Seite gezeigt. Heute ist an dem System viel zu kritisieren.
Ich selbst habe den zweiten Bildungsweg eingeschlagen und bin zur Polizei gegangen. Den Ordnungskräften ist man früher noch mit Ehrfurcht begegnet, weil sie der Gesellschaft, den Menschen dienen. Heute ist das anders und an Respektlosigkeit nicht zu überbieten. Da ist die vergangene Silvesternacht leider ein gutes Beispiel. Wie kommt man darauf, unsere Polizei und Rettungskräfte anzugreifen? Das ist absolut indiskutabel und das hat es früher in diesem Ausmaß nicht gegeben.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wenn ich als Senior auf dem Gehweg laufe, machen die Herrschaften heute keinen Platz. Stattdessen muss ich ausweichen. Im Wohnhaus grüßt man sich auch nicht mehr, das vermisse ich sehr. Der Umgang miteinander ist anders, er hat sich stark verändert. Früher war das Miteinander lebenswerter.
Nicht alles war früher besser
Mein Eindruck ist, dass das vor allem an der Kinderstube liegt. Die Erziehung war früher zwar deutlich strenger, aber auch nachhaltiger. Das hat sich im gesellschaftlichen Miteinander widergespiegelt. Das Benehmen im Straßenverkehr ist dafür ein gutes Beispiel. Durch meine Arbeit als Polizist habe ich das sehr gut mitbekommen. Damals war noch mehr Rücksicht angesagt, heute lautet das Motto „Jetzt komme ich!“. Das bemerke ich auch, wenn ich einkaufen gehe. Die Menschen machen einfach, was sie wollen. Das gefällt mir nicht.
Aber ich gebe zu, man muss differenzieren. Selbstverständlich gibt es vieles, das heute besser ist, da wünsche ich mir die Vergangenheit nicht zurück. Ich möchte hier keinen falschen Eindruck erzeugen. Ich bin 1941 geboren, mitten im Zweiten Weltkrieg. Vieles, das ich als Kind und Jugendlicher erleben musste, ist nicht erstrebenswert. Es gab viel Armut, die Nachkriegszeit war keine schöne Zeit.
Ganz so einfach, wie man es sich mit der Aussage „Früher war alles besser“ macht, ist es also nicht. Es war nicht „alles“ besser, es sind vielmehr einzelne Verhaltensmuster, die sich für mich nicht nur positiv entwickelt haben.
Häh? Haben Sie manchmal auch diese Momente, wo Sie sich fragen: Warum, um alles in der Welt, sind andere Leute so? Wir helfen bei der Antwort. Wenn Sie eine Gruppe Menschen besser verstehen wollen, dann schicken Sie Ihre Frage an verstaendnis@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader