Die Türkei am Tag danach: Ein Putschversuch, viele Fragen

So desorientiert sich die Putschisten verhielten, so genau weiß die Regierung, was zu tun ist. Nur gegen die Gerüchte über das Geschehen kann sie nichts tun.

Männer in Istanbul warten an einer Bushaltestelle

Ein Land in Wartestellung. Wohin wird die Reise gehen? Foto: ap

ISTANBUL taz | Am Tag nach dem Putschversuch gegen Präsident Erdoğan und seiner Regierung sitzt der Schock bei den meisten Menschen tief. Doch während die Aktivisten und Anhänger des Präsidenten auf den Straßen und Plätzen Präsenz zeigen, so wie Erdoğan es von ihnen gefordert hatte, machen sich bei dem Rest der Bevölkerung immer mehr Zweifel darüber breit, was da eigentlich in der Nacht von Freitag auf Samstag passiert ist.

Alle älteren Menschen im Land können sich noch gut an den Militärputsch vom 12. September 1980 erinnern. Er war eine Zäsur für das Land, die teilweise noch bis heute nachwirkt. „Damals“, erzählt ein Mann im Teehaus zwei jüngeren Bekannten, „sind wir morgens aufgewacht und in Fernsehen und Radio war nur noch Marschmusik zu hören. Alle wichtigen Politiker waren bereits verhaftet, das Kriegsrecht ausgerufen und alle wichtigen Plätze im Stadtbild von Ankara und Istanbul vom Militär besetzt. Was für ein Putschversuch soll das gestern Nacht denn gewesen sein?“, ereifert sich der Rentner, der seinen Namen aber lieber nicht nennen will.

Die Leute beginnen, sich Fragen zu stellen. Fragen, die im Gespräch mit Bekannten auftauchen, Fragen, die beim Zeitungshändler oder im Caféhaus diskutiert werden. Welcher Putsch beginnt denn freitagabends um 22 Uhr, wenn die Panzer im Feierabendstau steckenbleiben? Warum sind fast alle TV-Kanäle auf Sendung und interviewen ein Regierungsmitglied nach dem anderen? Und vor allem, warum haben die Putschisten offenbar erst gar nicht versucht, einen verantwortlichen Politiker, deren Herrschaft sie ja angeblich beenden wollten, festzunehmen oder sonst aus dem Verkehr zu ziehen?

Fragen, auf die es auch am Samstagabend keine Antwort gibt und die im Parlament, das am Nachmittag zu einer Sondersitzung zusammengekommen ist, erst gar nicht gestellt wurden. Stattdessen zirkulieren Informationen, deren Wahrheitsgehalt so gut wie nicht zu überprüfen ist.

So zum Beispiel ein Interview mit einem Soldaten, der angeblich an dem Putsch teilgenommen hat. Er erzählt, er habe eigentlich Urlaub gehabt und sich bei seiner Familie in Kadiköy, einem Istanbuler Stadtteil auf der asiatischen Seite der Stadt, aufgehalten. Er sei dann angerufen worden, er solle sich bei seiner Einheit melden, es würde eine Übung stattfinden. Die Übung bestand darin, dass sie mit einigen Panzern durch Kadiköy fuhren. Dann sei der Befehl gekommen, sie sollten mit ihren Kameraden die erste Brücke über den Bosporus sperren.

Als sie über die Autobahn auf die Brücke vorrückten, seien ihnen Zweifel über den Charakter der Übung gekommen. Es herrschte Chaos, er und seine Kameraden wussten nicht, was sie machen sollten. Sie hätten sich dann dafür entschieden, den Panzer abzustellen und das Weite zu suchen.

Mehrere Männer halten einen weiteren Mann fest

Was geschieht hier? Demonstranten halten einen Soldaten (in blauer Weste) fest Foto: ap

Was sich so abenteuerlich und unglaublich anhört, ist genauso auch am Flughafen geschehen. Einige wenige Panzer von Putschisten sollten ein riesiges Gelände absperren. Als immer mehr wütende Zivilisten auf sie zukamen, verließen sie ihre Panzer und mussten teilweise von Polizisten vor der wütenden Menge gerettet werden.

Bereits am frühen Morgen hatte Ministerpräsident Binali Yıldırım den Chef der Ersten Armee, Ümit Dündar, zum kommissarischen Generalstabschef ernannt, da der amtierende Militärchef Hulusi Akar von den Putschisten als Geisel gehalten worden sein soll. Dabei stellte sich heraus, dass die in Istanbul stationierte Erste Armee an den Ereignissen offenbar völlig unbeteiligt war. Ohne sie ist ein erfolgreicher Putsch aber undenkbar.

Sicherlich, angesichts von fast 300 Toten verbietet es sich von selbst, von einem Operettenputsch zu sprechen. Außerdem machen Verschwörungstheorien in der Türkei zu jeder sich bietenden Gelegenheit die Runde. Aber das hat eben auch damit zu tun, dass die Regierung kritische Fragen so gut wie nie mit Transparenz und Aufklärung beantwortet.

Verhaftungs- und Entlassungswelle

Stattdessen findet am Tag nach dem Putschversuch eine enorme Verhaftungs- und Entlassungswelle statt. So desorientiert sich die Putschisten verhielten, so genau weiß die Regierung, was zu tun ist. Während im Parlament die Demokratie pathetisch beschworen wird, werden in wenigen Stunden knapp 3.000 Militärs im ganzen Land quer durch alle Waffengattungen, Ränge und Stationierungsorte verhaftet. Offenbar wissen die Militärstaatsanwälte der Regierung genau, nach wem sie suchen sollen.

Gleichzeitig werden 3.000 Richter entlassen, darunter zehn der höchsten Gerichte und fünf Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte, des Gremiums, das für die Besetzung von Richterstellen zuständig ist. Angeblich handelt es sich bei allen um Sympathisanten der Gülen-Sekte, der islamischen Bewegung, die Erdoğan bereits in der Nacht für den Putschversuch verantwortlich machte.

So desorientiert sich die Putschisten verhielten, so genau weiß die Regierung am Tag danach, was zu tun ist

Fethullah Gülen, das greise Oberhaupt der Sekte, lebt seit Ende der 90er-Jahre in den USA. Mehrfach hatte Erdoğan seine Auslieferung gefordert. Am Samstagmittag sagte US-Außenminister John Kerry während eines Besuches bei seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow, Erdoğan werde ja nun sicher stichhaltige Beweise für die Vorwürfe gegen Gülen vorlegen, damit über eine Auslieferung entschieden werden könne.

Darauf werden die Amerikaner aber wohl lange warten können. Dass Fethullah Gülen hinter dem Putschversuch stecken könnte, halten nahezu alle Beobachter für ausgeschlossen.

Schließlich gilt die Armee bis heute als die Institution, die sich dem Säkularismus am meisten verpflichtet fühlt. Selbst wenn es in ihren Rängen einzelne Gülen-Sympathisanten geben sollte, sie wären in keinem Fall fähig gewesen, einen Putsch anzuzetteln. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung jetzt die Gelegenheit ergreift, die „säkulare Armee“ endgültig in ihrem Sinne umzuformen.

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