Die These: Gönnt den anderen ihre Schwächen!
Seit Beginn von Corona sind Misstrauen und Belehrung unsere selbstgerechten Begleiter. Das ist nicht gut. Wir sollten an das Gute in uns glauben.
S o wie es die fünf Phasen der Trauer gibt (Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz), gibt es auch die fünf Phasen der Coronabewältigung: 1. Daran wachsen wir als Gesellschaft! 2. Alle scheiße, außer mir! 3. Irgendwann ist es geschafft! 4. Das hört niemals auf! 5. Lalala, ich schaue Serien und tue so, als wäre nix passiert.
Anders als die fünf Phasen der Trauer treten die Coronaphasen aber nicht nacheinander auf, sondern wechseln sich munter ab. Ich selbst bin aktuell in Phase zwei, also im Team Genervt. Ich bin genervt vom Versagen „der Politik“ im Allgemeinen und von den Ministerpräsident:innen im Speziellen. Ich bin genervt von Vorgesetzten, die auf Präsenzpflicht statt Homeoffice bestehen. Ich bin genervt von Pflegepersonal, das sich impfen lassen könnte, es aber nicht will.
Und ich bin genervt von den Menschen um mich herum. Von den drei eher kerligen Typen, die um die Ecke vorm Hauseingang stehen und sich ohne Maske in Normaldistanz unterhalten. Von der Frau mit dem Hund, die auf dem Bürgersteig nicht einen Zentimeter zur Seite weicht, als wir aneinander vorbeigehen. Von den Leuten, vor der Bankfiliale, die zwar Schlange stehen, aber praktisch ohne Abstand. Von den vielen weiteren Menschen, die draußen unterwegs sind, obwohl doch kaum was offen hat, und von den Schneefans, die vor zwei Wochen ins Sauerland oder den Harz fuhren, bis die Straßen gesperrt werden mussten. Jetzt reißt euch halt zusammen! Echt mal.
Aber, stopp! Ich will das gar nicht. Also genervt sein sowieso nicht, aber auch nicht dauernd über andere Leute aus der Ferne urteilen.
„Wenn die das dürfen, will ich aber auch“
Seit Beginn der Pandemie sind Misstrauen und Missgunst, Beurteilung und Belehrung unsere selbstgerechten Begleiter. Wir blicken auf Nachbarn und Kneipengäste, analysieren Instagram-Feeds, vermessen die Bevölkerungsdichte von Liegewiesen und Fußgängerzonen, und unsere Reaktionen oszillieren zwischen „Wenn die das dürfen, will ich aber auch“ und „Schau, die reißen mit dem Arsch ein, was wir über Wochen aufgebaut haben“.
Manche Gruppen werden sogar zum Medienthema: Mal die Jugendlichen, die angeblich permanent in Parks „Coronaparty“ machten, mal die Touristen, mal die Leute, die sich in der Adventszeit draußen zum Glühweintrinken trafen, und jetzt eben die Hobbywintersportler.
Das ist nicht gut. Die aktuelle Zeit ist mental schon anstrengend genug, da sollten wir uns nicht auch noch permanent beäugen und übereinander herfallen. Wir sollten gnädig miteinander sein. Wir dürfen das Gönnen nicht verlernen!
Es ist doch so: Jede und jeder versucht gerade, einen moralisch halbwegs sauberen und emotional halbwegs befriedigenden Weg durch diesen Schlamassel zu finden. Manche haben dafür bessere äußere Voraussetzungen als andere – keine Vorerkrankungen, einen krisensicheren Job, liebe Menschen im eigenen Haushalt, keine zu behomeschoolenden Kinder, schweineviel Geld –, aber so ziemlich alle müssen gerade krass viel Unsicherheit aushalten und irgendwie klarkommen.
Verschiedene Menschen, verschiedene Bedürfnisse
Dabei unterscheiden wir uns in unseren Bedürfnissen. Was für mich einfach ist, mag für andere wirklich schwierig sein – und umgekehrt. Für manche ist es tatsächlich kein Problem, Freunde nur noch online zu sehen. Oder Hobbys nachzugehen, die allein in den eigenen vier Wänden funktionieren. Für andere eben schon.
Ich kann zum Beispiel nur schwer begreifen, warum Religionsgemeinschaften sich so dringend in Innenräumen treffen und dabei eventuell sogar noch singen müssen. Glaube an sich ist mir schon unverständlich, und dass man den nicht eine Zeitlang allein für sich ausüben kann – Gott ist doch überall und so – noch weniger.
Aber gut: Es scheint ein wichtiger seelischer Ausgleich zu sein, diese Dinge in Gemeinschaft zu tun. Es wäre gut, wenn ich das akzeptieren könnte. Umgekehrt wünsche ich mir mehr Verständnis, dass für andere Menschen das Tanzen zu lauter elektronischer Musik an speziellen Orten eine ähnliche Funktion erfüllt und dass das im Freien, mit Abstand eben auch möglich ist. Und für noch andere der regelmäßige Gang ins Fitnessstudio. Oder der Boardgame-Nachmittag.
In den ersten Pandemiemonaten wurde häufig betont, dass der Infektionsschutz, bei aller Bedeutsamkeit, keine Ultima Ratio sein kann, dass man auch die psychischen Folgekosten der Teilisolation dagegenhalten muss. Das sollte jetzt, wo sich die Lage verschärft, sogar noch mehr gelten als zu Anfang der Pandemie, wo sich vieles noch wie ein aufregendes Abenteuer anfühlte.
Klar ist schwer dagegen an zu argumentieren, warum man unbedingt diese eine Chorprobe, dieses eine gemeinsame Kochen braucht. Man braucht es nicht. Aber monatelang auf seine Lieblingsaktivitäten oder auch nur auf sozialen Kontakt zu verzichten, das geht achtsamkeitstechnisch eben auch nur schwer klar.
Ein Aussetzer hin und wieder ist völlig okay
Corona wird kein Sprint, sondern ein Marathon, hieß es im Frühjahr 2020 oft. Inzwischen fühlt es sich eher wie ein Ultraman an, ein Ultraman des Verzichts. Den aber halten wir als mehrheitlich ungeübte Pandemie-Athleten mental nur durch, wenn wir uns auch kurze Verschnaufpausen erlauben. Bei Fasten- und Diätaktionen nennt man so was „Cheat Day“: Ein Aussetzer hin und wieder ist völlig okay, aber danach geht es weiter. Besser als am eigenen Perfektionsanspruch zu zerbrechen.
Cheat-Momente sollten wir uns – selbst und gegenseitig – auch in der Pandemie gönnen. Das sollte dann kein Pokerturnier mit 50 Mann im schlecht belüfteten Partykeller sein. Aber vielleicht doch mal mehr als einen Freund treffen. Oder eben mal raus zum Langlaufski.
In einer Umfrage von Anfang Januar hielten 53 Prozent der Deutschen die Coronamaßnahmen für angemessen, weitere 30 Prozent sagten sogar, sie gingen nicht weit genug. Man darf also annehmen, die meisten Leute hierzulande nehmen die Sache ernst und handeln coronakonform, so gut sie eben können.
Dann gehen wir doch also erst mal vom Guten aus! Die Glühweinwalker und die Schneefreunde haben sich für Aktivitäten an der frischen Luft entschieden, bei denen sie auch gut Abstand halten können, statt sich zum Kaffeetrinken in ihrer Wohnung zu treffen. Die Frau mit dem Hund hatte vielleicht einen sehr stressigen Tag und nicht mehr die Kraft zur Rücksichtnahme durch Ausweichen.
Der Verzicht bleibt unsichtbar
Der Jugendliche, der im Sommer einer Gruppe Gleichaltriger im Park zu nahe gekommen ist, hat bestimmt auch auf sehr viel verzichtet, auf Hobbys, viele Partys, ein normales Schulleben – aber in diesem Moment eben mal nicht. Das Dumme ist: Den Verzicht sehen wir nicht, nur die Ausnahmen. Genau wie bei dem älteren Ehepaar, dass am letzten Wochenende vorm zweiten Lockdown noch mal ins Restaurant gegangen ist. Das hat vielleicht sein Enkelkind noch nie gesehen, seinen Urlaub abgesagt und war auch nicht mehr in der Oper. Aber dieses eine Essen sollte eben noch sein.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Natürlich besteht dabei das Risiko einer Ansteckung. Wenn wir alle aber 24 von 25 Kontaktmöglichkeiten weglassen, ist eben auch schon sehr viel erreicht.
Das bedeutet nun nicht, dass alles egal und gerechtfertigt ist. Noch immer gibt es zu viele Leute, die nicht begreifen wollen, dass auch sie selbst und ihr direkter Bekanntenkreis sich mit Covid-19 infizieren können und sie damit die Pandemie als Ganzes am Laufen halten. Die sich bestenfalls widerwillig an die Regeln halten und für die fast jeder Tag ein Cheat Day ist. Das ist nicht okay, erst recht nicht angesichts von drohenden Mutationen.
Aber lasst uns doch zumindest erst mal bei allen Menschen annehmen, dass sie sich Mühe geben und ihren Beitrag leisten. Und gönnen ihnen Schwächen und Verschnaufpausen. Dann klappt es auch besser mit Phase eins der Coronabewältigung.
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