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Die Medina von Tunis„Ein guter Ort zum Leben“

Die Altstadt von Tunis gehört zum Weltkulturerbe. Die tunesische Mittelschicht mag diesen Ort für Kultur und Handwerk.

Ein Teeverkäufer auf der Touristenmeile der Altstadt von Tunis. Foto: Nicolas Fauqué

Enge, verwinkelte Gassen lassen das stechende Sonnenlicht nicht durch. Die Medina von Tunis mit ihren aneinandergeschmiegten weißen, kubischen Häusern ist ein schattiges Labyrinth. Ein autofreies Netz von Straßen mit einer Ausdehnung von 300 Hektar, ein Gewirr aus verwinkelten Gassen, das sich schnell erschließt, wenn man sich darauf einlässt. Rasch erwacht ein Gefühl für die scheinbar chaotische Anordnung.

Hinter den dicken Hauspforten aus Palmholz, die zunächst abweisend wirken, tun sich prächtige Paläste, gekachelte Innenhöfe, heruntergekommene Wohnhäuser und einfache Werkstätten auf. Dort wird gehämmert, geschweißt, genäht. Von den verschachtelten, flachen Dachlandschaften blickt man auf das verkehrsüberflutete Tunis und ist froh, der hupenden Hektik dort entronnen zu sein. Einige der Altstadtdächer werden inzwischen als Caféterrassen benutzt, sonst gehören sie den dürren Katzen, es ist ihr Revier.

Die Medina von Tunis mit ihren mehr als 1.200 Jahren Geschichte ist eine der schönsten und besterhaltenen Altstädte in der arabischen Welt, schon bevor von Syrien über Irak bis Libyen geschichtsträchtige Architektur durch wilde Männerhorden willkürlich eingestampft wurde. Seit 1979 ist die Medina von Tunis mit ihren über 700 Baudenkmälern Weltkulturerbe. Sie ist aber auch Lebensort für etwa 100.000 Menschen.

Auf dem Platz der rue du Tribunal im restaurierten Teil der alten Stadt steht eine vertrocknete Palme. Jugendliche benutzen sie als Torpfosten. Am Kiosk gegenüber kaufen kichernde Schülerinnen Cola und belegte Brote. In den Souks, den Einkaufsstraßen der Medina, finden die Bewohner alles, was zum täglichen Leben nötig ist: Haushaltsgegenstände, Kleidung, Stoffe, Schuhe,Teppiche, Schmuck, Lebensmittel, Obst, aber auch frischen Fisch und Fleisch auf den Märkten.

Jagd nach einem echten Gucci-Schnäppchen

Und vor allem die traditionellen Dinge gibt es nirgends zahlreicher als hier: Henna, Weihrauch, Gewürze, Brautschmuck oder das Augen-Make-up Khol. Die Straßen sind nach Wirtschaftszweigen geordnet: die Parfümhändler im Souk el Attarin, die Schuhhändlern im Souk el Blaghija, die Stoffhändlern im Souk des Étoffes.

Am Rande der Medina türmen sich Jeans, Blusen, Schuhe, Taschen zu gewaltigen Stapeln. Diese Kleidermärkte sind die größte Warenkette Tunesiens, hier verkaufen Secondhandhändler Kleiderspenden aus Europa und den USA. Ein Großteil der Bevölkerung kleidet sich dort ein, auch die modebewusste Mittelschichtstunesierin jagt hier nach einem echten Gucci-Schnäppchen.

Tipps für die Altstadt

Führungen: Jeden Samstag um 9.45 Uhr vor dem Restaurant Dar Jeld lädt die Historikerin und Urbanistin Jamila Binous zum Stadtrundgang „La Medina, un art de vivre“ Treffpunkt: Restaurant Dar Jeld (rue Dar Jeld). Dauer der Führung: ca. 3 Stunden Reservierung: Tel. +2 16 22 53 98 08

Link zu einer virtuellen Führung durch die Medina von Tunis: www.medinatunis.com/index.php/fr/

Association de Sauvegarde de la Medina de Tunis: Der Sitz der Gesellschaft in einem Palast in der Medina ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Dort gibt es auch Ausstellungen zu den Restaurierungsarbeiten. In einem Nebengebäude befindet sich das Kulturzentrum Tahar Haddad, Entstehungsort der tunesischen Frauenbewegung. Heute ein Treffpunkt für Jugendliche und Kulturzentrum mit wechselnden Kunstausstellungen: 24, rue du Tribunal, www.asmtunis.com

Pensionen in der Medina: Das Haus der Tänzerin Sondos Belhassen beherbergt zwei geschmackvolle Gästezimmer, das Chambre bleue – so heißt auch ihr Gästehaus – wurde in vielen Magazinen gerühmt. www.lachambrebleue.net/deutsch-gastezimmer/index.html

Das Maison bleue von Heidrun Eckardt und Martha Zouari ist ein saniertes Gebäude in der Medina. Sehr beliebt bei Praktikanten, Auszubildenden, Studenten: La Maison bleue, Impasse du Saint,19, Tourbet El Bey, 1008 Bab Menara, Tel. +2 16/71 35 42 19;Das Hotel Dar El Medina hat sehr geschmackvolle, individuelle Zimmer und eine wunderschöne Dachterrasse. 64, rue Sidi Ben Arous, Tunis 1006,Tel. +2 16 71 56 30 22.

Restaurants: Ein schönes Kulturcafé mit Dachterrasse ist das Café Restaurant El Ali. 45, bis rue Jemâa Zitouna.Tel. +2 16 70 69 81 20, contact@medinatunis.comEin gutes traditionelles Restaurant in einem wunderschönen alten Haus ist das Dar Jeld. 5, rue Dar el Jeld, Tel. +2 16 7 15 609 16;Im Fondouk el Attarine kann man in einem schönen Innenhof zu Mittag essen oder in kleinen Nebenräumen Tee oder Kaffee trinken. Dort gibt es mit die schönsten Dinge wie Schmuck, Teppiche oder traditionelle ­Kleider. Sehr hochwertig. Souk El Attarine, Tunis Medina Tel. +2 16 71 32 22 44

Der Anwalt Mohamed Jmour wurde vor fast 60 Jahren im Hafsia-Viertel der Medina geboren. Jahrhundertelang lebten hier muslimische und jüdische TunesierInnen zusammen. Heute stehen Synagoge, die jüdische Schule und eine Krankeneinrichtung verwaist da. „Was Armut heißt, habe ich in meiner Grundschule in der rue de Glacière erfahren“, erzählt Jmour. „Meine Lehrerin schickte mich nach Hause, als ich nach den Ferien ohne Bücher in die Klasse kam. Wir waren sieben Kinder. Mein Vater erhielt seinen Lohn am Ende einer Woche. Erst dann wurde alles Nötige gekauft. Am Schulanfang konnte es passieren, dass nicht genügend Geld da war, um für alle Kinder Bücher und Hefte zu kaufen.“

Auf der Straße traf das Kind einen jungen Kommunisten und erzählte, was passiert war. Der nahm den Jungen an die Hand, brachte ihn zurück in die Schule, empörte sich beim Direktor über das Verhalten der Lehrerin. Die wurde abgemahnt, der Junge zurück in die Klasse gebracht. „Vielleicht reichen die Wurzeln meines politischen Engagements bis zu diesem Erlebnis zurück“, schmunzelt Jmour, der Rechtsanwalt und Pressesprecher der linken Partei Watad ist.

Jmours alte Grundschule liegt nicht weit von dem heruntergekommen Prostituiertenviertel, einem Teil der Medina, wo nichts renoviert wurde. Das Viertel wirkt finster. Die Häuser zerfallen. Die Islamisten wollten die Häuser der Prostituierten während ihrer Regierungszeit von 2011 bis 2014 schließen.

Prostitution, aber auch Homosexualität sind im nachrevolutionären Tunesien immer noch stark tabuisiert. Dabei wird Tunesien von den reaktionären Traditionshütern der Arabischen Halbinsel als freizügiger Hort sämtlicher körperlichen Genüsse geschätzt.

Der Kulturkampf im Ursprungsland der arabischen Revolutionen hat erst angefangen: Die kürzlich zugelassene Vereinigung „Shems“, die sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzt, wird nicht nur vom Mufti der Republik angegriffen. Doch in der Zivilgesellschaft und den sozialen Medien organisiert sich Unterstützung.

Eine kompetente Führung durch die Altstadt

Jamila Binous ist eine resolute, selbstsichere Frau, sie führt Besucher fachkundig durch die Altstadt. Sie liebt diesen Ort, möchte dessen besondere Lebensart, „son art de vivre“, mit anderen teilen. Die Historikerin und Urbanistin Jamila Binous ist in der Medina geboren. Sie hat das Mädchengymnasium in der rue du Pacha besucht. Dort sitzen seit Generationen die Fahnenschneider.

“Es ist wichtig, dass die Bewohner der Medina bei den Entscheidungen der öffentlichen Hand, vor allem mit Blick auf die Restaurierung der Medina, mitwirken. Wir wollen, dass die Bedürfnisse der hier wohnenden Menschen berücksichtigt werden. Wir wollen kein Schmuckkästchen für BesucherInnen, die einmal im Jahr während des Ramadan zu einem Konzert in die Medina kommen“, sagt Binous. Sie hat jahrelang in der Association de la sauvegarde de la Medina (ASM), der Gesellschaft zur Erhaltung der Medina, mitgearbeitet.

Durch die rue du Pacha führt Binous in den renovierten Teil der Medina, wo kulturelle Einrichtungen in herrschaftlichen Häusern und Koranschulen, Medersen, nah beieinanderliegen: Im Palais Kheireddine ist das Musée de la ville de Tunis mit seinen wechselnden Kunstausstellungen untergebracht; im Dar Ben Achour die Bibliotheque de la ville de Tunis; das ,Dar El Jaziri` wurde zum Maison de la poésie. Das Kulturzentrum Medersa Bir Lahjar macht mit Musik von sich reden und ist Sitz des alljährlichen Festivals der Medina im Ramadan.

Junge AusstellungsmacherInnen haben ihrerseits die Altstadt mit ihren Außenbezirken - unter dem Motto ,Dream City‘ - bereits mehrfach (zuletzt 2012) zum Ort von Kunstaktionen gemacht. Sie wollen zeigen, dass die Altstadt kein vergangenheitslastiger Ort ist: „Wir haben immer von einer Stadt geträumt, in der die alte und die moderne Welt in Harmonie nebeneinander existieren können. Wir haben geträumt, dass Kunst an allen Straßenecken passiert und dass sich Zeit und Ort des künstlerischen Geschehens im Alltag einfinden können“, so die Choreografen des Festivals, Selma und Sofiane Ouissi.

Im Palast Dar Lasram ist die Gesellschaft zur Erhaltung der Medina untergebracht. Das einstige Wirtschaftsgebäude des Palasts war schon in den 1960er Jahren ein öffentlicher Raum für Frauen: der Club Tahar Haddad. Die Räume mit Steinfußböden und Rundbogendecken, von massiven Steinpfeilern getragen, waren die Geburtsstätte der neuen tunesischen Frauenbewegung.

Die Altstadt von Tunis ist wieder gefragt

Die „Erhaltung und Sanierung sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen der BewohnerInnen und die Förderung und kreative Weiterentwicklung des Kunsthandwerks“ sind Aufgaben der 1967 gegründeten Gesellschaft zur Erhaltung der Medina. Ihr Chef, Zoubeir Mouhli, wohnt selbst hier. Er kennt die Veränderungen nicht nur aus Studien, er erfährt sie hautnah und ist überzeugt: „Es ist ein guter Ort zum Leben. Es gibt keinen besseren.“

Mouhli erzählt vom Wegzug der früheren BewohnerInnen in den 60er und 70er Jahren in neue, moderne Vorstadthäuser. Arme Landbevölkerung, die in die Hauptstadt zugewandert war, zog in die leer stehenden Häuser ein. Die Medina galt nun als heruntergekommen, als Ort der Armen. Die Medina wurde zur No-go-Area für die aufstiegswillige Mittelschicht.

Heute kehren die Mittelschichten in die Medina zurück. „Die alte Stadt ist wieder gefragt,“ weiß Zoubeir. „Auch Ausländer kaufen sich hier ein. Allerdings wollen wir eins vermeiden: den Ausverkauf der Medina an reiche Ausländer wie in Marrakesch. Bislang hat unsere Altstadt eine gute Mischung verschiedener sozialer Gruppen.“

Das Chambre bleu - geschmackvolle Unterkunft

Eine Zugezogene ist auch die Tänzerin und Schauspielerin Sondos Belhassen. Die schmale, agile Frau mit der Kurzhaarfrisur und den ausgefransten Jeans ist in einem der nördlichen Villenvororte von Tunis groß geworden. Vor Jahren hat sie sich bewusst dafür entschieden, mit Partner und zwei Kindern in die Medina zu ziehen. Ein Teil eines größeren Gebäudekomplexes wurde erworben und restauriert. Hier betreibt Belhassen ein Gästehaus mit zwei Gästezimmern, „La chambre bleue“.

Sondos Belhassen beschreibt die Vorteile der Medina: „Hier brauche ich kein Auto. Brot, Obst und die meisten Lebensmittel finde ich gleich um die Ecke, die Kinder können zu Fuß zur Schule gehen, auf der Straße spielen, wir haben ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft.“ Belhassen führt ein modernes Leben hier: „Die Medina ist ein Viertel wie jedes andere in Tunis. Ich lebe hier nicht im 19. Jahrhundert.“

Die Künstlerin ist aktiv in der BürgerInnenvereinigung Action citoyenne en Medina. Sie engagiert sich für die Interessen der Altstadtbewohner. „Wir waren in der Schule Hakim Kassar. Die Kinder wussten nicht, dass sie im einstmals jüdischen Viertel der Medina lebten, nichts über die Geschichte der öffentlichen Gebäude, nichts vom Namensgeber ihrer Schule“, erzählt Belhassen.

Die Touristenmeile und die Händler

Halb neun morgens am Stadttor Bab El Bhar (Tor des Meeres). Aus der schmalen rue Jamaa-Ez-Zitouna strömen Menschen zur Avenue Bourguiba. Junge und Ältere, von denen viele in der Medina wohnen. Sie sind auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zur Universität. Andere eilen die Altstadtgasse hinauf, durch die man zu Fuß rasch bis zur Kasbah mit ihren Regierungsgebäuden gelangt.

Touristen bevölkern die rue Jamaa-Ez-Zitouna erst später, wenn sie in diesen unruhigen Zeiten des Terrors überhaupt nach Tunis kommen. Sie dringen nicht tiefer ein ins Labyrinth der Gassen. Sie gehen vom Stadttor Bab El Bhar hoch zur Zitouna-Moschee im Zentrum der Medina. Es ist die Touristenmeile, auf der viele Händler mit chinesischen Billigprodukten dem eingesessenen Handwerk Konkurrenz machen.

Ohnehin müssen sich die Kunsthandwerker der Medina neu erfinden. Wer kauft heute noch Tee- oder Kaffeeservice, Pfannen, Tabletts aus Kupfer für den täglichen Gebrauch? Die Gebrauchsgegenstände der Schmiede, Töpfer und Schneider von einst sind größtenteils zu Souvenirs degradiert. Nichtsdestotrotz borden die Souks an der Touristenmeile mit dem immergleichen Angebot an Taschen, geschnitzten Schachspielen, Pantoffeln, Schmuck und Kupferschalen über.

Die Medina ist auch identitätsstiftend

Durchquert man die Medina auf dieser Touristenmeile, vorbei am Souk El Attarine, El Trouk, El Chouachia, El Berka bis hinauf zur Kasbah, dem Regierungssitz schon zu Zeiten der Beys, gelangt man zum Place du Gouvernement. Hier befinden sich die meisten Regierungsgebäude. Im Frühjahr 2011, nach dem Sturz des Diktators, kamen zwei „Karawanen der Freiheit“ aus dem Landesinneren in die Hauptstadt. Sie besetzten den großen Platz, erzwangen den Ausschluss von Ben-Ali-Getreuen aus zwei Übergangsregierungen. Jetzt verriegelt Stacheldraht den Zugang.

Die Medina ist heute wieder ein Ort des Geschehens, aber auch ein Ort für Kunst, Kultur und Handwerk. Ein Ort, der für viele wieder attraktiv ist. Gerade in Zeiten des Umbruchs, der Orientierungslosigkeit, des Terrors ist die geschichts- und kulturgetränkte Medina auch identitätsstiftend.

Und manchmal, wenn abends die Sonne nur noch verwöhnt, wenn junge Paare auf der Dachterasse des Kulturcafés El Ali in der Rue Jamaa-Ez-Zitouna schmusen, Touristinnen in knappen Shorts gegenüber mit den Lederhändlern feilschen, die Antiquitätenhändler Ali und Youssef Chammakhi ihre viel zu teuren Schmuckstücke verkaufen, die Tänzer auf dem Platz vor der Zitouna-Moschee soziale Ungleichheit anprangern und der Muezzin all dem seinen Segen gibt, könnte man tatsächlich glauben, dass hier traditionelle und moderne Welt in Harmonie nebeneinander existieren könnten.

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