Die Mediensituation in der Türkei: Vom Gefängnis zum Vermittler

Die Kritik aus Europa an Präsident Erdoğans Repression kritischer Journalisten ist inzwischen weitgehend verstummt.

Menschen halten Plakate mit dem Konterfei des in Istanbul ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi

02. Oktober 2020: Protest am Jahrestag der Ermordung Jamal Khashoggis vor der saudischen Botschaft in Istanbul Foto: Emrah Gurel/ap

Auf den ersten Blick scheint die Einschränung der Pressefreiheit in der Türkei heute ein geringeres Problem zu sein als noch vor einigen Jahren. Das Thema macht in Deutschland keine Schlagzeilen mehr und drängt sich bei Regierungskontakten nicht mehr auf. Das kann nicht allein mit mangelndem Interesse erklärt werden.

Vielmehr ist die Türkei auch nicht mehr das größte Journalistengefängnis: Die Zahl inhaftierter Journalisten dort liegt jetzt bei 18 (CPJ 2021), vor einigen Jahren lag sie bei über 100. Auch in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rückte die Türkei von Rang 157 (2019) auf 153 (2021) vor.

Hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen Sinneswandel vollzogen? Oder gibt es in türkischen Gefängnissen keinen Platz mehr für Journalisten? Letzteres ist wahrscheinlicher. Denn laut Europarat liegt die Türkei bei der Zahl Inhaftierter pro 100.000 Einwohner knapp hinter Russland an zweiter Stelle. Und derzeit sind in der Türkei 36 neue Gefängnisse im Bau.

Weiterhin laufen Tausende Gerichtsverfahren gegen Hunderte von Journalisten. Viele werden auf Bewährung entlassen, dürfen das Land aber nicht verlassen. Im Jahr 2021 wurden 115 Journalisten während ihrer Arbeit gewaltsam angegriffen (M4D Report). Im Februar 2022 wurde Güngör Arslan, Chefredakteur der Webseite Ses Kocaeli, vor seinem Büro erschossen. Zuvor hatte er über Korruptionsvorwürfe gegen den Bürgermeister von Kocaeli berichtet.

Kontrolle durch die Vergabe von Presseausweisen

Es ist viel schwieriger geworden, Presseausweise zu erhalten. Der Staat entscheidet allein, wer akkreditiert wird und damit, wer überhaupt Journalist sein darf: Etwa Mitarbeiter von Propagandakanälen, die Geschäftsleuten mit engen Verbindungen zum Erdoğan-Regime gehören. Der Rest wird bestraft.

Allein im Jahr 2021 verhängte der Hohe Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) gegen fünf Medien mit oppositionellen Berichten Geldstrafen von umgerechnet fast 1,5 Millionen Euro. Nach der Verabschiedung eines neuen Internetgesetzes im Oktober 2020 wurden 1.200 Nachrichtenartikel entfernt – mehr als die Hälfte davon handelte von Korruption und Machtmissbrauch. Mehr als 150.000 Webseiten sind laut Freeweb Turkey gesperrt. Beim Verbot von Inhalten, die von Journalisten und Nachrichtenquellen erstellt wurden, steht die Türkei laut einer Statistik von Twitter weltweit an zweiter Stelle.

Doch warum ist die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei kein Thema mehr für Europa? Einige Jahre hatte Europa die Türkei als Diktatur gesehen und behandelt. Doch vor allem nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine wurde die Türkei wegen ihrer geostrategischen Lage und ihrer guten Beziehungen zu beiden Konfliktparteien wieder zum hofierten Partner etwa beim diplomatischen Versuch der Durchsetzung eines Waffenstillstands.

Die Türkei umwirbt russische Oligarchen, die vor westlichen Sanktionen fliehen, und verkauft zugleich Drohnen an die Ukraine

Frage der Pressefreiheit wird zur Nebensache

Erdoğan ist inzwischen keine Persona non grata mehr, sondern wird umworben, weshalb jede Kritik an seinem Regime zum Schweigen gebracht wird. Eine „Nebensächlichkeit“ wie Pressefreiheit ist da kein Thema mehr.

Bestes Beispiel dafür ist die Entscheidung eines türkischen Gerichts, den Prozess um die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi an Saudi-Arabien zu übergeben. Der Regimekritiker war 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul im Auftrag des Regimes in Riad ermordet worden. Erdoğan hatte damals ein schlechtes Verhältnis zu Riad und erklärte, dass „die Verantwortlichen dafür bezahlen“ würden.

Inzwischen hat sich das bilaterale Verhältnis aufgrund wirtschaftlicher Interessen verbessert. Jetzt sucht Erdoğan keine Gerechtigkeit mehr, sondern reiste letzte Woche persönlich nach Riad, um bei den Scheichs für Investitionen und Handel zu werben.

Der Autor ist freier Journalist und arbeitete beim türkisch-deutschen Medienprojekt taz.gazete (2017–2020) der taz Panter Stiftung

Dieser Text ist Teil einer Beilage der taz Panter Stiftung und von Reporter ohne Grenzen in der taz vom 3. Mai 2022, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit.

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