Die Kunst der Woche: Die Weltläufe (er-)finden
Für ihre politisch eindringlichen Ölgemälde malt Simin Jalilian aus der Erinnerung. Andere Zeichen der Vergangenheit verdanken wir diesmal dem Schlamm.

D amals als seine Werke noch grau und unscharf waren, fand ich Gerhard Richter interessanter. Jetzt rakelt er nur noch blöde bunte Bilder. Vermutlich, weil er damit eine Menge Geld verdient. Aber mehr noch, weil ihn die Weltläufe nicht mehr berühren. Er ist alt. Die Getriebe der Welt gehen jetzt seine Kinder und Kindeskinder an, denen das Geld dabei Vorteile verschafft. Das geht mir durch den Kopf bei 68projects.
Dort wird Simin Jalilian gezeigt, deren Farben eher stumpf und schmutzig braun sind und da und dort mit ein wenig Blau. Die Motive der 1989 in Teheran geborene Künstlerin handeln eben vom Elend der Welt und davon, wie das für sie und viele andere Frauen, für all die Vertriebenen und Geflüchteten ausschaut. Ihr breit und ausdrucksstark gesetzter Pinselstrich bezeugt ihre Verbundenheit mit der Malerei der Neuen Wilden, die sie schon im Iran faszinierte.
Natürlich wollte sie ihr Studium bei Werner Büttner an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg fortsetzen, wo sie seit 2016 lebt. Inzwischen ist sie – trotz unsicherem Aufenthaltsstatus – hier angekommen, wie es „Integration“ (2025) ironisch bezeugt. Das Bild zeigt zwei junge Frauen in der Hocke, die den Kronkorken ihrer Bierflaschen mit dem Feuerzeug aushebeln. Ihr Albtraum wird also in der Szenerie von „Bitte nicht abschieben“ (2025) konkret. Auch wenn die Künstlerin den Ort des Geschehens im Ungefähren belässt und das Flugzeug, das Rollfeld sowie die Uniformen der Security-Leute, Polizisten und sonstigen Funktionsträger keine nationalen Erkennungsmerkmale aufweisen.
Das erklärt sich auch daraus, dass Simin Jalilian ihre Bilder, wie im Galerietext zu lesen, ohne Modelle und ohne fotografische Vorlagen, allein durch Erinnerung und Imagination erarbeitet. Damit bewahrt sie sich die Freiheit der rein malerischen (Er-)Findung. Die malerische Geste erst gebiert die Erzählung, die durchaus von dieser Welt ist.
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Freilich bleibt sie nicht im Realismus stecken, wie in der Arbeit „Nah und fern“ zu sehen ist, in der die Künstlerin eine Reihe von Kühen hinter dem Fressgitter beobachtet. Ihr kraftvoller Pinselstrich definiert zunächst die Bildfläche und kreiert einen abstrakten Bildraum, aus dem die gefleckten Körper der Kühe hervortreten. Sie versenken ihre sanften Mäuler ins goldene Heu. Die Ruhe und Konzentration, die in der Szene liegen, sind trügerisch, gehören sie doch zum Bild der Gefangenschaft.
Mit Schlamm zur Rettung
Vorteile im Getriebe der Welt hat Geld schon dem etruskischen Adeligen Lucius Marcius Gabrillo aus Chiusi verschafft, auch wenn – oder gerade weil – er ein leidender, kranker Mann war, wie die Bronzestatue seiner schiefen Gestalt verrät. Wie die Inschrift auf dem rechten Bein besagt, war die Statue – zusammen mit sechs weiteren Statuen sowie sechs Beinen – seine Weihegabe an das etruskisch-römische Quellheiligtum in San Casciano. Dort hatte er irgendwann in den letzten drei vorchristlichen Jahrhunderten Linderung seiner Leiden gesucht.
Simin Jalilian. Eine Einzelausstellung, 68projects, bis 23. August, Di.–Sa., 11–18 Uhr, Fasanenstr. 68
Die Bronzen von San Casciano dei Bagni: Eine Sensation aus dem Schlamm. James-Simon-Galerie, bis 12. Oktober, Di.–So. 10–18 Uhr, Bodestr. 1–3
Nun ist Lucius Marcius Gabrillo zusammen mit weiteren 14 außergewöhnlich gut erhaltenen Bronzestatuen und -köpfen sowie Hunderten bronzener Votivgaben in der Ausstellungshalle der James-Simon-Galerie zu sehen. Zum ersten Mal außerhalb Italiens wird dort der Ausnahmefund gezeigt, die „Sensation aus dem Schlamm“, wie es im Ausstellungstitel heißt. Er wurde in den letzten drei Jahren bei Grabungen in San Casciano dei Bagni in der Toskana geborgen. Die Objekte, darunter ein der Länge nach halbierter, nackter männlicher Torso, eine bronzene Luftröhre und die Statue eines Kindes, das einen Ball in der Hand hält, der sich noch immer drehen lässt wie vor fast zweieinhalbtausend Jahren, stammen aus der Zeit vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr.
Antike Bronzefiguren sind äußerst selten, da sie in späteren Zeiten häufig dem Metallhunger zum Opfer fielen und zu Kesseln und Kanonenkugeln eingeschmolzen wurden. Insofern verdankt sich der Erhalt dieser Bronzen dem Schlamm, der das Wasserbecken im Bagno Grande verdeckte, neben dem, nur durch einen Bauzaun getrennt, noch heute in einem modernen Thermalwasserbecken reger Badebetrieb herrscht. Das Wasserbecken war zugemauert und vergraben worden, wohl aufgrund eines Blitzschlags, und zwar gemäß der etruskischen Tradition der ars fuluratoria, der Kunst der Zeichendeutung, mitsamt dem Blitz selbst – in Form einer kleinen Bronze.

Die Bronzen verdanken sich wohl auch dem Umstand, dass die schwefelhaltige Thermalquelle schon vor der Errichtung einer eleganten Thermenanlage mit Säulengang durch die Medici im 16. Jahrhundert, eine wohlhabende Klientel anzog. Diese leistete es sich, ihre Opfergaben – erkrankte Körperteile wie Augen, Ohren, Gliedmaßen sowie ihre von Krankheit gezeichneten Körperfiguren mit Stifterinschriften – in Bronze zu gießen. In anderen antiken Zentren der Bade- und Heilkunst sind solche Objekte regelmäßig aus Ton.
Den etruskischen und römischen Inschriften ist zu entnehmen, dass die meisten Stifter aus Chiusi stammten, einem der zwölf Stadtstaaten, die den etruskischen Herrschaftsbereich in Mittelitalien bildeten. Anders als die südlicheren Etruskerstädte suchte Chiusi nicht mehr die Konfrontation mit Rom, sondern dessen Schutz.
Über das aus Kleinasien eingewanderte Volk weiß man immer noch wenig, da sich die Archäologen schwertun, seine reiche materielle Überlieferung zu deuten, weil sie die Sprache nur in Bruchstücken verstehen und auf die römischen Quellen angewiesen sind. Angesichts der in ihrer so genauen plastischen Ausführung ebenso überraschenden wie anrührenden Votivgaben, meint man aber in der James-Simon-Galerie den Sorgen der Eltern mit kranken Kindern und den anderen Kranken doch sehr nahe zu kommen.
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