Die Kunst der Woche: Zwischen Metaphysik und Alltag
Thomas Lanigan-Schmidt trägt glitzerende Kelche ins Wohnzimmer. Bei Michail Pirgelis werden ausrangierte Flugzeuge zu minimalistischen Readymades.

O h, Kelche. Christliche Kelche. Mit großen Edelsteinen besetzt wie liturgisches Gerät aus dem Kölner Domschatz. Oder vielleicht aus dem russisch-orthodoxen Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad? Thomas Lanigan-Schmidt, der diese Gefäße in hochmittelalterlicher, metaphysischer Unperfektion aus – ja – zusammengedrückten Aluminiumbahnen oder Plastikschnipseln anfertigte und mit vielen Tackernadeln in Form brachte, ist nämlich einmal vom Katholizismus zur russisch-orthodoxen Kirche übergetreten. Weil sie „irgendetwas mit Kommunismus zu tun hatte“, so der US-Künstler 2012 in einem Interview angesichts seiner Ausstellung im MoMA PS1. Lang vor Putin und dem Moskauer Patriarchen Kyrill, während des Kalten Kriegs, geschah das, als allein das Wort Kommunismus in den USA eine Provokation bedeutete.
Vom New Yorker Viertel „Hell’s Kitchen“ aus bastelt sich Lanigan-Schmidt seit jeher an der US-Gesellschaft und ihren Regularien ab. In seinen umgeformten Waren und Verpackungen werden Spirituelles und Alltägliches, Pomp und Trash zu einer eigenwilligen, campy Dingwelt.
Und die ist nun in die Beletage-Wohnung der Galerie Buzzer Reeves überführt. Ratten aus Alufolie in einem Retro-Look aus Schuhcreme und Nagellack sitzen auf Sockeln, die typischen Brownstones New Yorks stehen in Form von Brottüten als miniaturisierte Häuserzeile vorm Fenster, im Hintergrund zieht die U1 an den Berliner Mietskasernen vorbei.
Auf den Kartons seiner Taschentuchboxen, die der 77-jährige und mittlerweile pflegebedürftige Künstler täglich nutzt, zeigen dichte Kugelschreiberzeichnungen leicht entrückte Alltagsszenen, irgendwo zwischen Banalität und Kunst: Fernsehkabel werden zum Ornament in vollgestopften Wohnzimmern, über den dichten Straßenfluchten schweben Putti.
Thomas Lanigan-Schmidt: „Lemon Sour Balls in Cherry Syrup“. Buzzer Reeves, bis 24. Mai, Mi.–Sa. 14–18Uhr, Skalitzer Str. 76; 24. Mai: Book Launch, Thomas Lanigan Schmidt „Rat Attack in Hells Kitchen“, 16–18 Uhr
Michail Pirgelis: „Seven Springs“. Sprüth Magers, bis 26. Juli, Di.-Sa. 11-18Uhr, Oranienburger Str. 18
Die sehen ein bisschen aus wie die von Raffael und scheinen weniger ein Glaubensbekenntnis als vielmehr die Reproduktion von Werbemotiven zu sein. Denn, das „amerikanische Leben ist hyperästhetisch“, so Lanigan-Schmidt. „Jede Werbeanzeige ist hyperästhetisch. Vielleicht ist es keine gute oder große Ästhetik, aber es ist Ästhetik“.
Frisch vom Flugzeugfriedhof
Von Lanigan-Schmidts folkloristischen Mini-Arrangements aus dem verengten New Yorker Großstadtleben geht es in der Galerie Sprüth Magers zu den materiellen Weiten der USA. Genauer: zu einem Flugzeugfriedhof in Arizona. Der Kölner Künstler Michail Pirgelis hat Teile der in der Wüste dahinrottenden Fluggiganten in die Galerieräume geholt.
Zum Kunstwerke erklärt, oszilieren sie nun zwischen Readymade, Skulptur und Malerei, zwischen klassischer Moderne, Popart, einem Minimalismus von Donald Judd und seiner gleichzeitigen Dekonstruktion. Pirgelis lässt Fragmente von den Aluminiumhüllen der Flugzeuge an der Wand lehnen. Sie scheinen monochrome Malereien zu sein, wenn sie sich nicht so wölbten und wieder als Bildhauerwerke in den Raum träten.

Obwohl Pirgelis' Ausstellung „Seven Springs“ auf nur wenige Objekte reduziert ist, birst der Raum mit seinen visuellen Motiven und Zeichensysteme des Markts – die Farben Rot und Blau auf den großen Schriftzügen der Airlines, ihre Logos, die manchmal wieder unkenntlich gemacht wurden, denn offenbar will man selbst auf einem Flugzeugfriedhof nicht immer preisgeben, wessen Gerätschaft hier zur ewigen Verrottung in der Wüste verdammt worden ist.
Eine Tapete mit einem abstrahierten Adler als Fake-Logo der American Airlines bedeckt die Wände mit einem flirrenden Muster. Die Nieten und offenen Fensterkonstruktionen sind sichtbar, gleichbar ihre jahrzehntelange Abnutzung. Was Pirgelis hier zum Schönen erhebt, ist das, was eigentlich schon längst wegverwertet wurde.
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