Die Kunst der Woche für Berlin: Wider alle Essenzen
Marco Reichert malt mit der Malmaschine, Brigitte Waldach fragt, wie wir Geschichte verstehen, und Juan Pablo Echeverri sprengte das Selbstportrait.
D ie ovale Form der gewellten schwarzen Linien erweckt den Eindruck eines enorm vergrößerten Daumenabdrucks oder eines maskierten, verschleierten Gesichts in Großaufnahme. Tatsächlich betrachtet man auf knapp zwei Dutzend Leinwänden von Marco Reichert die Variationen zweier Abstraktionen, was in ihren späteren Abwandlungen zunächst nur bedingt zu erkennen ist.
Die schweren farbsatten schwarzen Schleifen, durch die da und dort vom Malgrund ein Blau, Grün oder Orange aufleuchtet, hängen am Kopfende eines Saals in der Bergmannstraße, dessen ursprüngliche Funktion als Kreuzberger Hinterhofkino, seine auffällige langgestreckte Form erklärt. Jetzt ist dort die Galerie HOTO (für home to artists) zu Hause und zeigt die Ausstellung „Digital is Much Better“ von Marco Reichert, der mit den Betreibern Leopold Hornung und Antonio Rilling seit langem verbunden ist.
Dem Titel der Schau konträr scheint freilich eine Installation in der Mitte des Saals, die aus einem grauen Schaltkasten besteht, wie er einem auf der Straße auffällt, wenn die Telefonfuzzis am Arbeiten sind und einer mehr als drei Meter langen Schiene, auf der ein schwarzer Arm vor- und zurückfährt, wobei er die Anarchistenflagge mit dem weißen A im weißen Kreis schwenkt. Allerdings steht da noch „analog“ auf der Flagge. Was ist nun besser?
Besser ist natürlich beides. Da sind die schon erwähnten malerischen Abstraktionen, deren organische Form Marco Reichert aufgreift, teils löscht, teils digital überschreibt. Diese Markierungen werden von einer vom Künstler gehackten und zur Malmaschine umgebauten und mit jeder Menge Datensätze und Algorithmen gefütterten CNC-Fräsmaschine ausgeführt. Marco Reichert studierte Informatik, bevor an der Kunsthochschule Weißensee seinen Abschluss machte. Die „analog“-Installation stellt eine Art Modell der Apparatur dar.
Auf den Leinwänden ist gleichwohl sehr deutlich das Eingreifen des Künstlers zu beobachten, etwa in den mit spiegelndem Firnis behandelten Flächen. Insgesamt dominiert der malerische Eindruck, wobei Computerkunst und Elemente von Graffiti coole Zeitgenossenschaft versichern.
Zeichnen als Denkform
Daten spielen auch eine entscheidende Rolle in der Serie großer Zeichnungen „History now“, die der Ausstellung in der Galerie Pankow mit aktuellen Arbeiten von Brigitte Waldach den Titel gibt. Er führt in dem von Geschichte besessenen Denken der Moderne unweigerlich zu schwierigen Fragen. Wie meinen wir Geschichte konkret zu erleben? Wie erfahren wir sie, medial vermittelt, gerne politisch instrumentalisiert? Selbst, wenn das Krieg meint, wie wir zur Zeit leidvoll feststellen. Brigitte Waldach freilich hat sich dort umgeschaut, wo der Streit um die Deutungshoheit über geschichtliche Ereignisse und Figuren noch immer ein Streit mit Fakten und begründeten Argumenten ist, bei Wikipedia.
Bekanntlich können die Artikel der Online-Enzyklopädie von jeder und jedem bearbeitet werden, eine Möglichkeit, die Nutzer gerne und oft wahrnehmen, besonders bei einer Reihe zentraler Themenfelder wie Religion, Ideologie, Politik, Wissenschaft oder Kunst und Kultur, die auffällig oft überarbeitet werden. Diese Bearbeitungen der Beiträge zu Christentum, Nationalsozialismus, Terrorismus, Philosophie oder Psychoanalyse hat Brigitte Waldach über sechs Monate hinweg beobachtet.
Um sie dann wie es ihre Art, also ihre Kunst ist, auf großen weißen Papierbögen zu notieren, frei um die Figurenzeichnung von Jesus, Hitler, Mitglieder der RAF oder Hannah Arendt flottierend, also Repräsentanten des jeweiligen Themengebiets. Während die frühesten Einträge ganz blass auf dem Papier erscheinen, wie im Palimpsest ausradiert durch die nachfolgenden Korrekturen, sind diese desto kräftiger und dunkler auf das Ballt gesetzt, je aktueller sie sind.
Brigitte Waldach ist Zeichnerin. Ausgerechnet die Meisterschülerin von Georg Baselitz. Aber Brigitte Waldach ist eben Zeichnerin, weil sie Denkerin ist. Zeichnen interessiert Waldach als diskursive, nicht nur ästhetische Praxis. Die Künstlerin setzt sich mit der Zeichnung als Ausdrucksmittel der Entwicklung und Erprobung gedanklicher Konstruktionen auseinander, nutzt sie als genuines Medium der Reflexion. Und diesen Prozess vollzieht sie nicht klein klein, sondern im großen Maßstab. Ihre Blätter messen stets 190 x 140 cm, wobei sie die Arbeiten oft als Diptychen und Triptychen konzipiert, weshalb sie dann, grob überschlagen, gerne zwei mal drei Meter messen. Es braucht Hallen um beispielsweise ihren Zyklus der Goldberg-Variationen zeigen zu können.
Waldachs Bach-Zyklus mit zehn Triptychen und zwei Einzelarbeiten schließt mit dem Blatt „Aria-Ende“, das in Pankow zu sehen ist und auf dem die Notation von sämtlichen 30 Variationen als weiße Freilassungen auf dem mit Graphit überzogenen Blatt hervortreten und ein anschauliches Bild dessen zu geben scheinen, was man White Noise nennt. Doch die Künstlerin hat einen befreundeten Musiker beauftragt diese verdichtete Partitur in einer Soundinstallation akustisch darzustellen und dabei stellt sich heraus: es hört sich gut an und keineswegs nach White Noise.
„Plasma“, dargestellt als weiß flimmernder Regen und fluide Fläche, ist ein weiteres Großformat in der gleichen Technik, die verlangt, das ganze 190 x 280 cm messende Papierflache mit dem Graphitstift auszumalen, bis auf die weißen Freilassungen. Der Blick ins Universum, narrativ unterstützt durch Text-Fragmente aus der biblischen Genesis, ist ein Blick in ein ästhetisches Universum, einen Anthrazit glänzenden Kosmos zeitgenössischer Zeichnung.
Identität, 8000 Mal anders
Meistenteils analog, im Zeitalter des digitalen Selfie also noch einmal ganz besonders interessant ist das Werk von Juan Pablo Echeverri. Denn der 1978 in Bogota, Kolumbien geborene Künstler, machte sich schon mit analogen Mitteln, dem Fotoautomaten oder dem Besuch eines Passbildstudios, selbst zum Bild. Diesen Vorgang, sich zu fotografieren, keineswegs in der Absicht eines simplen Selbstporträts, sondern in der, ein Bild zu schaffen, auf dem man sich selbst zum Bild gemacht hat, sieht der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ein Charakteristikum des Selfie.
Dass Juan Pablo Echeverri (1978-2022) von Beginn an diesen Werkansatz verfolgte, hängt mit seinem aktivistischen Anliegen zusammen, sich einer reduzierten, statischen und essentialistischen Lesart von Identität zu widersetzten. Davon spricht auch der Titel „Identidad Perdida“ der Ausstellung bei Between Bridges, die an den Künstler erinnert, der letztes Jahr auf einer Reise tragischerweise an Malaria erkrankte und starb. Sich selbst zum Bild zu machen erlaubte es Echeverri mit einer Vielfalt an Ausdrucksformen von Identität und Geschlecht zu experimentieren. Er dokumentierte dies, indem er jeden Tag ein Porträt von sich in einer Fotokabine aufnahm. Die so entstandenen Passbilder sammelte er über 24 Jahre hinweg.
Marco Reichert: Digital is much better, HOTO, bis 11. Juni, Mi.–Sa. 13–18 Uhr, Bergmannstr. 109
Brigitte Waldach: History Now, Galerie Pankow, Breite Str. 8, bis 18. Juni, Di.–Fr. 12–20 Uhr, Sa./So. 14–20 Uhr
Juan Pablo Echeverri: Identidad Perdida, Between Bridges, bis 29. Juli, Mi.–Sa. 12–18 Uhr, Adalbertstraße 43
Unter dem Titel „miss fotojapón“ – unter anderem ein Wortspiel aus dem Homophon miss/mis (spanisch mein) und der kolumbianischen Geschäftskette Foto Japón – kam so ein Konvolut von über 8000 Bildern zusammen. Drei Bildtafeln im Format von 100 x 100 cm bei Between Bridges zeigen drei mögliche Zusammenstellungen von je 400 Bildern. Eines der Mittel, mit dem Echeverri sein sich stets wandelndes Selbstbild kreierte, waren Frisur, Haarlängen und Haarfarben. Auf „MascuLady“ (2006), einem Straßenaufsteller wie er in Südamerika vor Friseurgeschäften zu finden ist, zeigt der Künstler Frisuren in der damals populären, als metrosexuell gelabelten Ästhetik.
Die besondere Bedeutung von Frisuren als Zeichen für die Zugehörigkeit zu Subkulturen und Bewegungen, machte Joan Pablo Echeverri in einer eintägigen Performance mit neun fotografischen Stationen deutlich, während seine Haare immer wieder neu gefärbt und gleichzeitig stetig gekürzt und schließlich ganz abrasiert wurden. „MUTILady“ (2003) ist an der Fassade plakatiert. Mit wie viel Ideenreichtum, Wissen um kulturelle und popkulturelle Codes, Lust am Spiel – mehr als an der simplen Provokation – und gleichzeitig mit wie viel ernsthafter Überlegung und Arbeit der Künstler sein hochpolitisches Anliegen in ein zugleich brillantes ästhetisches Ereignis überführte, verdeutlichen einmal mehr seine Videos, die im Untergeschoß laufen und von denen man kein einziges versäumen darf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste