Die Kunst der Woche für Berlin: Blühendes Vermächtnis
Gleich zwei Schöneberger Orte bespielt die Ausstellung „textile“. Gerade in den Kiez umgezogen: ChertLüdde, mit einer frisch duftenden Auftaktschau.
G leich an zwei Standorten in Schöneberg – Frontviews at Haunt und drj art projects – läuft „–t–e-x–t–i–l–e. Artists and their work from the universe of fabrics and inter–weaving techniques“. Ein komplexes Thema, zu dem sich die Kurator:innen der Ausstellung merkwürdig unentschieden verhalten, wenn sie meinen, die teilnehmenden Künstler:innen hätten sich ja aktiv entschlossen im Feld des Stoffs zu arbeiten, also sei “davon auszugehen, dass sie alle um den Meta-Zusammenhang wissen und sich persönlich dazu positioniert haben“. Nur welche Schlüsse ziehen die Besucher:innen daraus? Wovon gehen sie aus? Dass sich die Positionierung der Künstlerin oder des Künstlers in ihrer Arbeiten widerspiegelt?
Das wäre doch schade. Weil zu einfach. Selbstverständlich illustrieren die bunten Seidenfäden im horizontalen und vertikalen Raster von „Play“ (2022) nicht Yasuaki Kurodas Konzept bei der Verwendung der Seide in seiner Kunst. Wer weiß überhaupt, welchen Stellenwert Seidenstoffe in der Praxis japanischen Kunstschaffens haben? Wenn textile Materialien aufgrund ihrer sinnlichen Besetzung und ihrer spezifischen Eigenschaften bei uns lange Zeit eher als „minderwertig“ galten, muss das in Ostasien nicht ebenso der Fall sein.
Dass Pailletten bunter, billiger Flitterkram sind, das weiß man. Verhandelt also Bettina Allamoda deswegen mit der Wandskulptur „Untitled (Millenial Pink) Rockette“ (2020) den Glamour des Gewöhnlichen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Zeigt sie womöglich welche großartigen malerischen Qualitäten das spiegelnd-irisierende Metallic-Material im Faltenwurf des Stretchstoffes entwickelt, der sich wie eine heftige, dreidimensionale Pinselbewegung an die Wand entlang spannt? Womöglich.
Womöglich aber geht es darum, dass die Einführung des weichen, elastischen Materials in der Kunst neue Kriterien für die Skulptur geschaffen hat? Man denke an Arbeiten von Louise Bourgeois, Yayoi Kusama oder Sarah Lucas. Solche Drastik wie bei diesen Dreien findet sich bei „t-e-x-t-i-l-e“ nicht. Das paradoxe Spiel von Flexibilität und stählerner Härte exerziert Alke Reehs im Haunt an drei vom Camping her bekannten Falthockern durch, die sie zu einer minimalistischen Wandskulptur verschränkt. Bei drj art procjets faltet sich dann ihr Stoff zur Architektur eines gotischen Deckenbogens. Den Stahl braucht es nicht mehr für das räumliche Erlebnis. Gespannt ist man in jedem Fall auf die angekündigte Publikation zur Ausstellung. Hier erteilen die Künstler:innen in kurzen Statements Selbstauskunft über ihre Position im Universum des Stoffes.
Flitter-Coup am neuen Ort
Wer in Berlin Pailletten, Federboas und anderen Flitterkram suchte, wurde die längste Zeit, nämlich 70 Jahre lang bis 2021, im Reich von Deko Behrendt fündig. Nun schmücken die riesigen Räume in der Hauptstraße 18 aus Eisendraht und handbemaltem Stoff konstruierte, überdimensionale Kirsch- und Vergiss-mein-nicht-Blüten von Petrit Halilaj & Alvaro Urbano. Die beiden gehören zu den Künstler:innen der Galerie ChertLüdde, der mit ihrem Umzug nach Schöneberg ein echter Coup gelungen ist. Ein Coup, den sie mit „Die Blüten von Berlin“, ihrer ersten Schau am neuen Ort als eine Art Vermächtnisausstellung angemessen feiert.
Neben den Blumenskulpturen zeigen Petrit Halilaj & Alvaro Urbano die Serie „I never saw Blue You“, große Papierarbeiten die echte Objets trouvés sind: Vor der Renovierung der Räume von den Wänden abgenommene Tapetenrechtecke. An den zerfransten Rändern der Wandskulpturen fächern sich die Muster und Materialien der über viele Jahrzehnte aufeinander geklebten Tapeten aufs Schönste auf. Interessanterweise sehen die Künstler ihre je nach der dominanten Tapetenfarbschicht „I never saw Blue You (dark Purple)“, „I never saw Blue You (Pink)“ oder „I never saw Blue You (Gold)“ genannten Papierarbeiten im Kontext der Geschichte der Landschaftsfotografie. Insofern Landschaft sich hier wie auf dem Fotopapier aus der Überlagerung von Farb- bzw. Hell-Dunkel-Schichten entwickelt.
Tatsächlich sind „Die Blüten von Berlin“ auch eine ganz unbedingt sehenswerte Fotoausstellung. Das besagt für die Kundigen schon der Titel der Schau, der sich von einem Lied herleitetet, das die verstorbene Dragqueen Ovo Maltine (1966-2005) schrieb und aufführte. Ihre Freundin und Teil der Szene war seit den 1990er Jahren Annette Frick, die, aus Köln nach Berlin gezogen, die queere Community der Stadt bei ihren Selbstinszenierungen und Performances, aber auch simplen Zusammentreffen mit ihrer – mit Schwarzweißfilm bestückten – Kamera begleitete.
Natürlich fallen die Fotos einer attraktiven Person in Drag auf, die im schicken Seidenhemdchen alte Tapeten von der Wand reißt. Allerdings ist das schon ein paar Jahre her, es handelt sich um Juwelia Soraya in ihrem Projektraum Casabaubou, den sie 2006 eröffnete. Anrührend die Fotoserie von Gunter Trube (1960-2008), dem bekannten Gehörlosen- und AIDS-Aktivisten, dem Sportler, Dichter, dem einfach schönen Mann, wie er sich falsche Wimpern anklebt, sich schminkt und Lippenstift aufträgt um als noch schönere Dragqueen zu glänzen.
Die Nähe von Frick zu den Protagonist:innen ihrer Aufnahmen ist offenkundig, ihr alltäglicher Umgang, wie er sich im ungezwungenen Verhalten der Akteure zeigt. In diesem intimen Moment zeigt sich eine Parallele zum Werk von Nan Goldin, das zum Teil ja im gleichen Berliner Milieu entstanden ist. Die Schwarzweißaufnahmen erinnern aber auch an das Werk von Michael Schmidt (1945-2014). Seine Berliner Szene ist zur Zeit in der Albertina in Wien zu sehen. Und da denkt man, es wird Zeit, dass auch Annette Frick ihre große institutionelle Ausstellung bekommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“