Die Grünen werden 40 Jahre alt: Ein verflucht weiter Weg
Fritz Kuhn kommt in Latzhosen. Eva Quistorp reist in einer „Ente“ an. Als sich in Karlsruhe die Grünen gründen, herrscht Chaos.
A m 12. Januar 1980 ist die Lehrerin Eva Quistorp mit einer Freundin im Citroën 2CV von Westberlin in Karlsruhe angekommen, nach 700 Kilometern Fahrt. In der Stadthalle findet sie jede Menge Strickpullis und Typen mit langen Wuschelhaaren vor. Fritz Kuhn, Student und in grün gebatikten Latzhosen unterwegs, ist stolz, in der mit Zigarettenrauch verhangenen Halle eine Stunde lang neben dem weltberühmten Künstler Josef Beuys sitzen zu dürfen. Und der damalige Berufsschullehrer Harry Block kann sich heute noch über den „DKP-Scheiß“ der einen und das „braunstichige Zeug“ der anderen Seite aufregen, der da damals debattiert wurde.
Es sind Erinnerungen aus einer anderen Zeit. Der Bundeskanzler heißt Helmut Schmidt und hält Ökologie für „eine Marotte gelangweilter Mittelstandsdamen“. Deutschland und die Welt sind in Ost und West geteilt, es herrscht Angst vor dem Atomtod, ausgelöst entweder durch Raketen oder ein havariertes Kernkraftwerk. In der Stadthalle von Karlsruhe haben sich viele jener versammelt, die mit all dem überhaupt nicht einverstanden sind.
Vierzig Jahre später ist der Atomausstieg zwar geschafft und der Kalte Krieg beendet, aber dafür beherrscht nun die Klimakatastrophe die öffentliche Debatte. Jene, die damit nicht einverstanden sind, gehen an jedem Freitag auf die Straße. Fritz Kuhn, 60, ist inzwischen Oberbürgermeister von Stuttgart, Eva Quistorp, 74, ist nur noch einfaches Parteimitglied, und Harry Block, langjähriger Stadtrat in Karlsruhe, ist pensioniert und hat den Grünen den Rücken gekehrt.
Alle drei waren vor Ort, als damals die grüne Bewegung zur Partei wurde, keiner von ihnen hat diesen Moment in besonders angenehmer Erinnerung. Aber es ist, wie bei allen Veteranen: Sie lassen einen gewissen Stolz erkennen, dabei gewesen zu sein und durchgehalten zu haben.
Eins ist klar, sagt Fritz Kuhn: „Man kann die Geschichte der Grünen nicht nur als Erfolgsstory erzählen, es war auch verdammt zäh und anstrengend.“
Eva Quistorp, Grünen-Gründerin
Es muss ein ungeheures Chaos geherrscht haben an diesem 12. und 13. Januar 1980 in der Stadthalle in Karlsruhe. Nach diversen Vortreffen versammeln sich an diesem Wochenende Delegierte von Bürgerinitiativen, frustrierte SPD-Mitglieder, Kommunisten, Maoisten, Spontis, Anthroposophen und rechtsnationale Biobauern. Auch eine Gruppe, die einvernehmliche sexuelle Beziehungen zu Kindern legalisieren will, kommt zu Wort. Und draußen auf dem Parkplatz machen derweil Herren – angeblich von der Stadtverwaltung – Fotos von Autokennzeichen.
Schon vor der Gründung hat die Partei eine Galionsfigur verloren. An Weihnachten war Rudi Dutschke an den Spätfolgen des Attentats vom April 1968 gestorben. Die Bremer Delegierten, die im Saal ganz vorne sitzen, halten einen Stuhl für ihn frei. Ein symbolischer Akt, den Eva Quistorp damals großartig findet. Sonst erinnert sie sich: „Es war unglaublich voll, alle drängten sich in den Gängen zwischen den Sitzreihen, alle redeten durcheinander und wollten irgendeinen Antrag einbringen, den sie für superwichtig hielten.“ Quistorp quetscht sich durch die Stuhlreihen, spricht Frauen an, um sie zur Kandidatur zu ermuntern. „Es war schnell klar, dass altlinke und konservative Männer das Podium dominierten.“ Auch deshalb hält sie selbst eine Rede und forderte die Frauenquote.
Die Badischen Neuesten Nachrichten zur Parteigründung
Der Karlsruher Harry Block sitzt derweil im Untergeschoss und jagt zusammen mit anderen Gründungsmitgliedern die Beschlussvorlagen durch die Hektografiermaschine. Er regt sich über die Papiere der Rechten um den Ökobauern Baldur Springmann und des Nationalisten August Haußleiter auf, die viel von Volksgesundheit, Heimaterde und deutschem Wald schwadronieren. Manche dieser „ökofaschistischen“ Sachen habe man unten in der Druckerei einfach unter den Tisch fallen lassen, erinnert sich Block.
Der Parteitag in Karlsruhe wird von einer knochentrockenen Satzungsdebatte dominiert. Heftig umstritten ist die Frage, ob die junge Partei Doppelmitgliedschaften erlauben solle, was viele Linke fordern. Erst am Sonntagnachmittag kann ein Unvereinbarkeitsbeschluss entschärft und die Partei gegründet werden. Die über eintausend Delegierten lachen, fallen sich in die Arme und skandieren: „Weg mit dem Atomprogramm!“ Die erst seit neun Monaten täglich erscheinende taz titelt am Tag danach: „Kompromiss in letzter Minute“. Und die sehr bürgerlichen Badischen Neuesten Nachrichten aus Karlsruhe, offenbar traumatisiert von dem grünen Gastspiel in der Stadt, schreiben einen Tag später: „Das ist ein Urwald, der absolut nicht in die deutsche Parteienlandschaft passt.“
Es ist nicht ganz leicht, eine Stunde null der Grünen zu identifizieren. Schon vor Karlsruhe, 1979, hatte Petra Kelly mit der Gruppierung „Sonstige Politische Vereinigung – die Grünen“ bei den Europawahlen einen Überraschungserfolg erzielt. In Bremen schaffte es eine Grüne Liste im selben Jahr in die Bürgerschaft. Ein Parteiprogramm ist auf dem Parteitag in Karlsruhe nicht verabschiedet worden. Aber in Baden-Württemberg gelingt auch ohne Programm im selben Jahr der Sprung in den Landtag.
Seit Karlsruhe sind die Grünen Partei. Nach den Worten des damaligen Sprechers, Wolf-Dieter Hasenclever, „nicht links, nicht rechts, sondern vorne“. Eine Behauptung, die sich vielleicht erst heute, nach jahrelangen Grabenkämpfen und zerstrittenen Doppelspitzen, in der Parteiführung einlöst. Der Erhalt des Planeten, eine neue Energie- und Verkehrspolitik, Gleichstellung von Mann und Frau, all das sind Fragen, die die Grünen damals formuliert haben und an denen heute keine Partei, ob links oder rechts, vorbeikommt.
Fritz Kuhn zitiert den Vordenker sozialer Bewegungen, den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, wenn man ihn nach der Erfolgsformel der Grünen fragt. Dessen Theorie von der kulturellen Hegemonie seien die Grünen gefolgt. Sie hätten frühzeitig Themen besetzt, die heute noch existenziell sind.
Dann wird der nüchterne Kuhn sogar ein wenig pathetisch und sagt, er habe damals nach der Lektüre des Berichts des Club of Rome, „Grenzen des Wachstums“, gewusst, „die Gründung dieser neuen Partei ist ein Generationenprojekt“. Das zumindest insoweit gelungen ist, als die Grünen heute Politik maßgeblich mitbestimmen. Kuhn ist dafür ein sehr gutes Beispiel.
Er war Landtags- und Bundestagsabgeordneter, 2005 bis 2009 bildete er erst mit Renate Künast, dann Claudia Roth die Doppelspitze der Partei. Seine Hosen sind längst nicht mehr selbst gebatikt. Heute sitzt er im ersten Stock des Stuttgarter Rathauses, in einem Büro, in dem man locker eine Partie Völkerball spielen könnte. In Baden-Württemberg, das der linke Grüne Jürgen Trittin mal als „Waziristan der Grünen“ bezeichnet hat, haben es die Parteigründer vom Realoflügel besonders weit gebracht. Von der Villa Reitzenstein aus blickt ein anderer Grüner der ersten Stunde auf Kuhns Arbeit im Stuttgarter Talkessel hinunter. Winfried Kretschmann, der erste grüne Ministerpräsident, der in seinem Habitus als Landesvater eher an CDU-Mitglied Erwin Teufel als an einen Grünen erinnert.
Immer wieder entscheidend: die Machtfrage
Die Machtfrage war bei den Grünen immer umstritten. Nicht erst seit der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder, wo die Grünen das erste Mal seit 1945 deutsche Soldaten in einen Kampfeinsatz schickten. Nicht erst seit der Beteiligung an diversen Landesregierungen, beginnend mit dem Turnschuhminister Joschka Fischer. Petra Kelly hatte die „Anti-Partei“ ausgerufen, andere wollten das Parlament nur nutzen, um das politische System der Republik zu verändern.
Kuhn gehörte nie dazu. Er sagt, er habe immer die Meinung vertreten, dass man als Partei wachsen und das Mitregieren anstreben müsse, wenn man etwas verändern will. Den Kompromiss, der manchem Linken bis heute als Verrat gilt, bezeichnet der Oberrealo dabei als „höchste Form der Politik“, weil dadurch auch der Gegner mitgenommen werde. „Mit dieser Einstellung hatte ich einen kürzeren Weg zur Regierungsbeteiligung als andere“, sagt Kuhn. Die Macht blieb anderen Grünen lange suspekt.
„Wenn sie Ämter kriegen, verändern sie erst die Haare, dann die Einstellung“, sagt Harry Block im Café Palaver im Karlsruher Gewerbehof. Er hat Politik immer nur ehrenamtlich betrieben. Es sind die Jahre, nicht die Ämter, die seine Frisur gelichtet haben.
Eva Quistorp hat noch immer die langen roten Haare, die sie auch schon offen trug, als sie in der Gründungsphase unter den Grabenkämpfen litt. Die Dominanzgesten der Männer, die Karriereorientierung einiger, die maoistisch orientierten K-Gruppen, die versuchten, den Laden zu übernehmen. Natürlich habe es eine informelle Hierarchie gegeben, sagt sie. Manche hätten die Reden gehalten, andere im Hintergrund gearbeitet. „Ich fühlte mich manchmal wie die Organisationsputzfrau.“
Kräftezehrende Debatten
Die Machtkämpfe waren bei den Grünen vielleicht nicht härter als bei anderen Parteien, aber sie wurden immer öffentlich ausgetragen, weil man Entscheidungen nicht in Hinterzimmern treffen wollte. Das zehrt an den Kräften und hat viele Veteranen aus der Partei gedrängt. Zu ihnen gehört Wolf-Dieter Hasenclever, dem man sogar in der CDU zutraute, einmal Ministerpräsident zu werden, der dann aber lieber Schulleiter wurde. Oder Otto Schily, der irgendwann keine Lust mehr hatte, bei den Grünen das demokratische Einmaleins zu diskutieren, und in den 1990er Jahren zur SPD wechselte. Jutta Dittfurth und Thomas Ebermann, die die Grünen verließen, weil sie ihre Ziele verraten sahen. Und auch Harry Block, für den die Teilnahme deutscher Soldaten an Nato-Angriffen auf Belgrad unter der rot-grünen Regierung ein Kompromiss zu viel war.
Eva Quistorp ist geblieben. Inzwischen hat sie ihren Frieden mit den Grünen geschlossen. Wie fair und harmonisch Annalena Baerbock und Robert Habeck heute zusammenarbeiteten, das hätten die Grünen früher auch gebraucht, findet sie
10. 6. 1979: Die „Sonstige politische Vereinigung Die Grünen“ erhält bei der Europawahl 3,2 Prozent der Stimmen und zieht ins Parlament ein.
7. 10. 1979: Die Bremer Grüne Liste zieht mit 5,1 Prozent in die Bürgerschaft ein.
30. 9. 1979: 700 Anhänger gründen die Grünen in Baden-Württemberg.
16. 12. 1979: In Hersel bei Bonn gründet sich der Landesverband Nordrhein-Westfalen.
13. 1. 1980: In Karlsruhe wird die Bundespartei Die Grünen aus der Taufe gehoben.
5. 10. 1980: Die Grünen erhalten bei der Bundestagswahl lediglich 1,5 Prozent.
6. 3. 1983: Die Partei zieht mit 5,6 Prozent erstmals in den Bundestag ein.
12. 12. 1985: In Hessen beteiligen sich die Grünen erstmals an einer Landesregierung.
24. 11. 1989: In der DDR gründet sich die Grüne Partei.
2. 12. 1990: Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl fliegen die West-Grünen mit 4,8 Prozent aus dem Parlament. Das östliche Bündnis 90/Die BürgerInnenbewegung kommt auf 6,2 Prozent und erhält 8 Mandate.
3. 12. 1990: Ost- und West-Grüne schließen sich zusammen.
23. 11. 1992: Fusion von Bündnis 90 und den Grünen. (klh)
Ob Fundis oder Realos, es gibt wohl nur eine Integrationsfigur, über die man sich über alle Parteigräben hinweg einigen kann. Zumindest im Nachhinein. Petra Kelly, eine zarte Frau, die fließend Englisch und Französisch sprach und schnell zwischen beidem hin- und herwechselte. Sie fällt Eva Quistorp sofort auf, als sie sie Pfingsten 1978 zum ersten Mal trifft. In Irland ist das, bei einem internationalen Anti-Atom-Kongress, den die Transportarbeitergewerkschaft und der Hausfrauenverband organisiert haben. „Es war wie Liebe auf den ersten Blick“, erzählt Quistorp. Beide Frauen haben vieles gemeinsam. Sie sind linke Intellektuelle mit bürgerlichen Wurzeln. Die eine hat ihre Teenager- und Studienjahre in den USA verbracht, die andere ist eine Pfarrerstochter vom Niederrhein. Sie lieben Literatur und Musik, verehren Joan Baez und Martin Luther King.
Sie bilden ein Team, ein Frauenduo bei den männlich dominierten Grünen. Die charismatische Kelly wird zur Galionsfigur der jungen Partei, Quistorp wirkt im Hintergrund, knüpft Bündnisse, organisiert Demonstationen. Die Grünen, ihre Grünen, wurzeln in Hunderten Bürgerinitiativen, die sich in den 1970ern im ganzen Bundesgebiet gegen Atomkraft und Umweltzerstörung gegründet haben.
Petra Kelly, die Greta Thunberg der jungen Partei
„Sie war damals unsere Greta Thunberg“, sagt Harry Block heute im Café Palaver in Karlsruhe. Eine emotionale Vorreiterin, die die richtigen Themen angesprochen hat. Er lobt ihr Charisma und ihre Wärme. In diesem Punkt ist Block sogar mit Winfried Kretschmann einig, mit dem ihn sonst wenig verbindet. Kretschmann, der mit Kelly seine Auseinandersetzungen hatte, sagt: „Ohne sie wären die Grünen heute nicht das, was sie sind.“
Diese Einsicht kommt spät. Denn zur grünen Geschichte gehört auch das traurige Ende Petra Kellys, das kein gutes Licht auf den menschlichen Umgang miteinander in der jungen Partei wirft. Zehn Jahre nach der Gründung hatte sie sich in den Flügelkämpfen der Partei und der Bundestagsfraktion aufgerieben, war aus dem Bundestag ausgeschieden. Im Jahr 1992 wurde sie von ihrem Lebens- und Politikgefährten, dem ehemaligen Bundeswehrgeneral Gert Bastian, erschossen, der sich danach selbst das Leben nahm. Die Partei hatte sie da offenbar schon fast vergessen. Man fand die beiden erst Wochen später tot in ihrer Wohnung.
Die Gegenwart als Anfang von morgen
Jamila Schäfer hat Petra Kelly nicht mehr kennenlernen können. Sie ist im April 1993 geboren, 13 Jahre nach der Parteigründung. Als Helmut Kohl abgewählt wird, ist sie fünf Jahre alt. Als Joschka Fischer wegen des Kosovokriegs einen Farbbeutel aufs Ohr bekommt, sechs. Die junge Frau ist heute Bundesvizevorsitzende der Grünen und gehört zu der Generation, die nur Angela Merkel als Kanzlerin kennt.
In einem Berliner Café an der Spree denkt sie über das nach, was die Partei für sie ausmacht. „Die Grünen brachten eine avantgardistische Erkenntnis in die Politik ein, nämlich die, dass Menschen als biologische Wesen von der Umwelt abhängig sind und nicht dauerhaft auf ihre Kosten leben können.“ Schäfer hat sich vorher für das Interview ein paar Gedanken im Smartphone notiert. Sie liest vor: „Für uns gilt das Prinzip, dass die Gegenwart der Anfang vom morgen ist“. Und schaut auf. „Das ist doch schön, oder?“
Ein Gedanke, der die Generationen verbindet. Das „Prinzip Verantwortung“ bemüht auch Kuhn, wenn man ihn fragt, warum er sich das alles angetan hat. Politik dürfe nicht als Status-quo-Verwaltung begriffen werden, wie es Angela Merkel macht, sondern als Zukunftsmanagement. Politik muss möglich machen, was nötig ist.
Mit diesem urgrünen Anspruch setzten heute Fridays for Future die Grünen gehörig unter Druck. Die Jugend ist ungeduldig, argumentiert beim Klimawandel physikalisch, nicht ideologisch. Sogar Winfried Kretschmann fühlt sich ermutigt, seinen sonst so getragenen Reden einen „radikaleren Sound“ zu geben.
Neulich im Bundesrat war er die treibende Kraft, das unbefriedigende Klimapaket der GroKo im Sinne der Grünen zu verbessern. 25 Euro pro Tonne Co2, nur ein Kompromiss, gewiss, nicht die reine grüne Lehre, aber immerhin. Aus der Opposition und mit dem Druck der Straße im Rücken waren die Grünen schon immer ziemlich erfolgreich. Mancher der Gründer von damals würde sagen: erfolgreicher als in der Regierung.
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