Die Erklärung: Datenhunger ohne Ende?
Der Europäische Gerichtshof hat die deutsche Vorratsdatenspeicherung gekippt, erlaubt aber Ausnahmen. Die Ampel ist am Zug.
1. Was ist eigentlich eine Vorratsdatenspeicherung?
Normalerweise greift die Polizei auf Beweismittel zu, die zufällig vorhanden sind. Mit der Vorratsdatenspeicherung will der Staat jedoch sicherstellen, dass immer Beweismittel vorhanden sind. Die Telefonfirmen sollten deshalb vorsorglich speichern, wer wann wen angerufen oder angesimst hat. Die Internetfirmen sollten festhalten, wer sich wann wo mit welcher IP-Adresse ins Internet eingeloggt hat. Bei Mobiltelefonen sollte auch der Standort gespeichert werden, so dass Bewegungsbilder angefertigt werden können. Nur Inhalte sollten nicht gespeichert werden. So wäre bei den Providern ein gewaltiger Datenfundus entstanden, auf den die Polizei bei Bedarf zugegriffen hätte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
In Deutschland wurde die Vorratsdatenspeicherung 2007 eingeführt, dann aber 2010 nach Protesten vom Bundesverfassungsgericht gekippt, weil die Daten nicht gut genug geschützt waren. 2015 wurde die Vorratsdatenspeicherung erneut eingeführt, aber nie praktiziert. Das Gesetz wurde 2017 wieder ausgesetzt, weil es absehbar gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verstoße.
2. Was hat der EuGH gegen die Vorratsdatenspeicherung?
Seit 2014 entscheidet der EuGH immer wieder, dass eine anlasslose und vorsorgliche Speicherung der Telefon- und Internetverbindungsdaten der gesamten Bevölkerung unverhältnismäßig und damit rechtswidrig ist. Die Verbindungs- und Standortdaten seien sensibel, weil sie auch Aufschlüsse über Verhalten, Vorlieben und Beziehungen der Nutzer geben können. Mit den Daten könnte der Staat Persönlichkeitsprofile erstellen. Dies sei auch bei den relativ kurzen Speicherfristen in Deutschland – vier bis zehn Wochen – möglich.
3. Wie geht es jetzt weiter?
Wenn der EuGH Vorratsdatenspeicherungen ausnahmslos für unzulässig erklärt hätte, wäre es einfach. Dann müsste der rechtswidrige Paragraf aus dem Telekommunikationsgesetz gestrichen werden und die Polizei könnte sich weiter auf klassische Polizeimethoden konzentrieren.
Allerdings hat der EuGH Ausnahmen zugelassen. Manche Formen der Vorratsdatenspeicherung sollen doch zulässig sein. So erlaubt der EuGH etwa die vorsorgliche Speicherung der IP-Adressen, weil diese oft der einzige Ermittlungsansatz sind. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will eine derartige IP-Adressen-Speicherung einführen. Sicherheitsbehörden wie etwa das Bundeskriminalamt machen entsprechend Druck. Doch Justizminister Marco Buschmann (FDP) ist dagegen. Er will keine abgespeckte Version, sondern gar keine Vorratsdatenspeicherung, die er als Generalverdacht gegen die Bevölkerung bezeichnet. Die Grünen stehen an der Seite der FDP. Die SPD ist gespalten.
4. Was sagt der Koalitionsvertrag?
Der Umgang mit der Vorratsdatenspeicherung war eines der umstrittensten Themen bei den Koalitionsverhandlungen der Ampel. Die SPD hätte am liebsten auf eine Festlegung verzichtet, doch die FDP bestand auf einer Festlegung. Nun heißt es im Koalitionsvertrag: „Angesichts der gegenwärtigen rechtlichen Unsicherheit, des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können.“
Innenministerin Faeser schließt daraus, dass es auch nach dem EuGH-Urteil noch eine Vorratsdatenspeicherung geben soll. Justizminister Buschmann hält dagegen, dass eine IP-Adressen-Speicherung der gesamten Bevölkerung nicht „anlassbezogen“, sondern anlasslos sei und daher gegen den Koalitionsvertrag verstoße. Insofern ist der Koalitionsvertrag sogar strenger als der EuGH.
5. Wie funktioniert eine IP-Adressen-Speicherung?
Die IP-Adresse (zum Beispiel 91.18.254.206) wird bei Privatleuten jeweils neu vergeben, wenn sie sich ins Internet einwählen. Bei jeder Einwahl bekommt man also eine neue IP-Adresse. Deshalb heißt es, die IP-Adresse sei dynamisch. Wenn im Zusammenhang mit Kinderpornografie eine bestimmte IP-Adresse auftaucht, dann sieht die Polizei erst mal nicht, wer der Nutzer ist. Die Ermittler müssen dann herausfinden, welcher Provider zu diesem Zeitpunkt die IP-Adresse an welchen Nutzer vergeben hat.
Früher haben die Provider die IP-Adressen zu Abrechnungszwecken meist wochenlang gespeichert. Doch seit Einführung von Flatrate-Tarifen ist dies nicht mehr nötig. Die Provider speichern die vergebenen IP-Adressen nur noch maximal sieben Tage, manche Provider speichern sie gar nicht mehr. Hier soll die Vorratsdatenspeicherung die Lösung bringen. Wenn die Internetfirmen die IP-Adressen mindestens zehn Wochen speichern müssen, dann sind sie in der Regel vorhanden, wenn die Polizei sie braucht.
6. Wie ist die Aufklärungsquote bei Kinderpornografie?
Ermittlungen wegen Missbrauchsdarstellungen im Internet werden häufig durch IP-Adressen ausgelöst, die die US-Organisation National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) von großen sozialen Netzwerken erhält und an die zuständigen Polizeidienststellen in aller Welt weiterleitet. Früher kamen die Daten oft zu spät, doch der Prozess hat sich massiv beschleunigt, auch wegen der fehlenden Vorratsdatenspeicherung.
Auch das Bundeskriminalamt (BKA) hat seine Prozesse optimiert und schafft heute eine Aufklärungsquote von beeindruckenden 75 Prozent. Mit Vorratsdatenspeicherung wären aber über 90 Prozent möglich, gibt BKA-Chef Holger Münch zu bedenken.
7. Wie funktioniert das alternative Quick-Freeze-Konzept?
Justizminister Marco Buschmann schlägt als Alternative zur IP-Vorratsdatenspeicherung das Quick-Freeze-Verfahren vor. Hier ordnet die Polizei das Einfrieren (also Speichern) von Daten erst dann an, wenn zum Beispiel ein Mord passiert ist. Dann könnten alle Daten von Personen gespeichert werden, die in der Nähe des Tatorts waren, ohne dass es gegen diese bereits einen konkreten Verdacht gibt.
Hauptargument gegen Quick Freeze ist, dass nur solche Daten eingefroren werden können, die noch vorhanden sind. Insofern kann Quick Freeze nie so effektiv sein, wie eine Vorratsdatenspeicherung. Allerdings wäre auch eine Quick Freeze-Lösung eine Verbesserung für die Polizei.
Insofern sitzt Justizminister Buschmann dann doch am längeren Hebel. Wenn es in der Koalition keine Einigung gibt, wird es keinerlei Vorratsdatenspeicherung in Deutschland geben – wie derzeit. Schon in Kürze will der Justizminister einen Referentenentwurf vorlegen. Aus seiner Sicht trifft es sich gut, dass er im Kabinett für das Thema zuständig ist, nicht die Innenministerin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht