Die DDR im Geschichtsunterricht: Eine deutsche Geschichte
Heute braucht es für Schüler*innen in Ostdeutschland Anlässe, um über die DDR zu sprechen. Doch es zeigt sich: Es ist auch ihre Historie.
Es ist viertel zehn am ersten Schultag nach den Herbstferien. Der Boden des Klassenraums ist frisch gebohnert, an der lachsfarben gestrichenen Wand hängt statt der grünen Schultafel ein kleineres Smartboard. „Mephisto arrangiert ein Doppeldate“, steht darauf. Deutschunterricht in der 10d. Alle haben braune Lesehefte auf ihren Plätzen, aus denen heute die Gartenszene aus Goethes „Faust“ gelesen werden soll. Faust und Gretchen sind sich bereits begegnet, konnten sich jedoch nicht richtig kennenlernen. Das soll sich nun ändern.
Eine große Frau steht am Lehrertisch und sortiert Unterlagen. Velia Schumann ist seit August 1989 Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Gauß-Gymnasium in Schwedt an der Oder. Damals hieß die Schule noch Erweiterte Oberschule. Der Bau ist inzwischen sonnengelb verputzt, doch in seiner Starrheit scheint der Ostschulbau noch immer grau-braun.
Die Schule steht im Zentrum der Stadt, zwischen viergeschossigen Wohnblöcken. Schumann begann hier damals in einem Land zu lehren, das schon kurz darauf zum Inhalt ihrer eigenen Geschichtsstunden wurde. Was lange Zeit präsent war, beginnt nun allmählich zu verblassen. „Es muss inzwischen einen Anlass geben, um über die DDR zu sprechen“, sagt Schumann.
Sie wollen darüber reden
„Ich hab nicht das Gefühl, dass es weg gedrängt wurde, aber auch nicht das Gefühl, dass man unbedingt drüber reden müsste“, sagt die Schülerin Sophie Kautz. Doch die Schüler*innen möchten darüber reden. Velia Schumann lässt an diesem Morgen Goethe links liegen, um über das Filmprojekt mit dem Namen #momentmal zu sprechen.
Anfang Mai hatte sie ihre Klasse in einer Projektwoche angeregt, fünf Kurzfilme zum Thema 30 Jahre Wiedervereinigung zu machen. Das Land Brandenburg förderte das Projekt, in dem Schüler*innen Schwedter Zeitzeug*innen gesucht, befragt, gefilmt und das Material mit Hilfe der Medienwerkstatt Potsdam geschnitten haben. Durch die Arbeit haben sich die Schüler*innen mit dem Leben in der DDR auseinandergesetzt, aber auch mit ihrer eigenen ostdeutschen Erfahrung.
Zu Hause blieb die Auseinandersetzung zuvor größtenteils aus. „Ich persönlich rede da mit meinen Eltern nie drüber. Ich kenne das nur von meiner Oma oder Uroma. Wenn man da mal zum Kaffeetrinken ist, erzählt sie irgendwas“, sagt Sophie Kautz zur Klasse. Sie lehnt sich dabei über die Stuhllehne in den Raum, erntet Zustimmung. „Damals, 55 …“, ahmt sie nach und bringt alle zum Lachen. Die 16-Jährige ist Schauspielerin am Städtischen Theater, das heute vor allem für seine Inszenierung des „Faust“ bekannt ist.
Goethes „Faust“ muss warten
Laut Lehrplan hätten sich die Schüler*innen noch nicht mit dem Thema DDR beschäftigt. Bis zum Ende des Schuljahres aber sollen sie das politische System, die Wirtschaft, den Alltag in der DDR und die Wiedervereinigung in zehn Schulstunden abgehandelt haben. Deswegen möchte Frau Schumann über das Filmprojekt einen Bogen von der Geschichte der DDR in den Alltag im Osten spannen.
Sie will zeigen, dass die DDR „mehr als nur Stasi und SED war, viel mehr“, sagt sie. Menschen seien durchaus auch glücklich gewesen, hätten zusammengehalten. Man müsse dabei aber mitdenken, dass es eine Diktatur gewesen sei. „Ich mag kein Schwarz-Weiß-Denken. Es wird in den Medien immer wieder gesagt, wie die DDR angeblich gewesen sei. Es gab auch ganz viele Grautöne und das sollte in den Mittelpunkt gerückt werden“, sagt sie. Schumanns Vorhaben ist kein leichtes.
Da ist die wenige Zeit im Lehrplan, aber auch eine Unsicherheit in der Unterrichtsführung. „Wir sind gebrieft worden, in welchem Stile wir das unterrichten sollen“, sagt Schumann. Für subjektive Ansichten und Erfahrungen sei eigentlich kein Platz. Doch auch wenn sie weiß, dass man sich als Zeitzeug*in manchmal auf „vermintes Gelände“ begebe, hält es sie nicht davon ab, offen mit den Jugendlichen zu sprechen. Wenn sie erklärt, in welche Grauzone sie sich damit begibt, zieht sie ihr Kinn leicht zur Brust, neigt den Kopf und schaut über ihre randlose Brille. Sie wird nie konkret. Ihre schmalen Lippen lächeln dann schräg.
Lene Schwarz hat für ihren Film „mums“ ihre Mutter als Zeitzeugin befragt. Viele der Eltern der Klasse steckten zur Wendezeit noch in ihren Schul- oder Berufsbildungswegen. Sie mussten ihr Leben in einem Land aufbauen, das plötzlich ganz anders und von Brüchen geprägt war. Der Film von Schwarz springt zwischen Portraitaufnahmen und Stop-Motion. Zwei der vier Mütter wollen ihr Gesicht nicht zeigen, wenn sie von einer Zeit erzählen, die sie als „bedrohlich“, „unsicher“ und „radikal“ beschreiben.
Was von der DDR geblieben ist
Schwedt ist eine ostdeutsche Planstadt. Anfang der 60er Jahre bauten vor allem sächsische Montagearbeiter zuerst eine Erdölraffinerie, dann eine Schuhfabrik und schließlich eine Stadt. Inzwischen sind die zehngeschossigen Wohnkomplexe der Arbeiter*innen dem Erdboden gleichgemacht. Wo einst 55.000 Menschen lebten, waren es zu Tiefstzeiten nur noch 30.000.
Der Altersdurchschnitt stieg, die Anzahl der Schulen sank. Viele der übrigen Plattenwohnungen wurden altersgerecht umgebaut, einige Stockwerke abgetragen. Die Zurückgebliebenen haben Eigenheime gebaut. Die Stadt ist heute flach, bunt angemalt und zieht sich scheinbar endlos in die Länge. An die DDR erinnert heute nur noch wenig. Äußerlich.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Das Dossier zu "30 Jahren friedliche Revolution" aus der Ausgabe vom 2./3. November gibt es online hier.
„Bei den Dreharbeiten hatte ich das Gefühl, dass sich meine Mutter zum ersten Mal wirklich erinnert, wirklich drüber nachgedacht hat“, sagt Lene Schwarz in der Unterrichtsstunde. Sie ist Mitte der 2000er geboren, als viele Spuren der DDR bereits verwischt waren. „Gibt es außer der Simmi in Opas Garage noch welche?“, will Frau Schumann von den Schüler*innen wissen. Simmi, der in der DDR gängige Spitzname für Simson-Mopeds.
Als erstes antwortet Sophie Kautz: „Wenn ich mit Bekannten aus dem Westen rede, dann haben die ganz andere Familientraditionen“ – „Zum Beispiel?“ – „Süßsaure Eier gibt’s im Westen mit weißer Soße, hier mit brauner.“ Es bricht eine Diskussion aus, in der alle durcheinander rufen. Etwa ob Rotkohl typisch ostdeutsch sei, Nudossi besser schmecke als Nutella. „Uäh, nee“. Die Meinungen gehen weit auseinander.
Sie sehen keine Chancengleichheit
Auf die Frage, ob sie denn die gleichen Chancen hätten, reagieren sie unisono: „Nein.“ „Beim Schulvergleich ist Berlin-Brandenburg immer ganz hinten. Dafür kann ich doch nichts und trotzdem wird man mit runtergemacht, auch wenn man sein Bestes gibt“, sagt Lene Schwarz. Die Klasse wird still. Sophie Kautz ergänzt: „Es gibt ja auch das Bild des dummen Ossis. Ich glaube schon, dass einen ein paar Leute im Westen nicht richtig ernst nehmen würden und sagen würden‚ wir haben hier unsere eigenen Leute, geh mal wieder zurück.“ Es ist ein Gefühl, für das sie und auch die anderen Schüler*innen keine erklärenden Worte finden.
Was für Klischees hängen denn am Ossi? Und wie ist der Wessi? Bei diesen Fragen sprudelt es aus den Schüler*innen heraus: „Für den Ossi ist Zusammenhalt wichtig“, sagt Sophie Kautz. „Der Ossi ist familiär und heimatverbunden.“ „Na der verträgt mehr Alkohol!“, raunt es aus verschiedenen Ecken. „Wenn einer nicht so viel verträgt, dann sagt man: Der hat ’ne Wessileber!“, ruft der Junge im Hoodie von hinten, worauf hin die anderen feixen. Er bemerkt aber auch „den Hang zu rechten Parteien“.
„Die Vorurteile von Ossi und Wessi – zum Teil stimmt das schon“, sagt Marc Perusinska von der Fensterseite. „Mein Onkel ist eingefleischter Wessi. Er kam vor Kurzem das erste Mal her. Da hat man schon gemerkt, dass er seine Komfortzone verlässt“, sagt ein anderer. Dieser sei sich zu fein gewesen, um in der polnischen Nachbarstadt zu tanken.
„Mein Papa ist Wessi. Wenn meine Eltern sich streiten, wird Ossi und Wessi oft als Beleidigung genommen“, erzählt ein blondes Mädchen von der anderen Seite, woraufhin es „ey, du Ossi“ aus dem ganzen Raum raunt. Ein dritter Junge wirft ein, er habe in einer Zeitung gelesen, dass im Westen mehr Frauen bereit wären, zu Hause zu bleiben. Und wie sieht es im eigenen Zuhause aus?
Der eigene ostdeutsche Weg
Tatsächlich zeigen Handmeldungen: Nur eine der Mütter in der Klasse geht keiner Lohnarbeit nach – nur ein Elternteil der 23 Jugendlichen aus dem Westen. Aus Syrien kommen zwei. Auf die Frage, wer westdeutsche Freund*innen hätte meldet sich: niemand.
Am Ende des Filmes „mums“ von Lene Schwarz, Sophie Kautz und Klassenkamerad*innen heißt es: „Wir finden, dass man über die DDR informieren sollte. Sonst würde unsere Generation und all die, die danach kommen, gar nicht wissen, warum wir so sind, wie wir sind. Jetzt haben wir die Möglichkeit unseren eigenen Weg zu gehen und unseren Herzen zu folgen. Das haben wir nur auf Grundlage unserer Geschichte.“
Zum 30. Jahrestag werden die Filme der Schüler*innen im Stadtmuseum, dann in der Schule gezeigt und vielleicht weitere Auseinandersetzungen anstoßen. „Dass ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält, / Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, / Und tu nicht mehr in Worten kramen“, wird Faust später sagen, wenn er vor Gretchens Türe steht.
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