Die Corona-Pandemie in Europa: Die zweite Welle
Wie gehen europäische Staaten mit den steigenden Infektionszahlen um? taz-Korrespondenten aus sechs Ländern berichten.
D ie Straße von der kroatischen Hafenstadt Split überwindet einige Hundert Höhenmeter in der dalmatinischen Karstlandschaft, um schließlich zum Grenzübergang zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina zu führen. Zu normalen Zeiten müssen Reisende hier in Kamensko längere Wartezeiten einplanen, jetzt jedoch, auf dem Höhepunkt der Coronakrise in beiden Ländern, liegen die Grenzanlagen fast verwaist da. Denn beide Seiten haben den Verkehr wieder erschwert. Bosnier müssen sich testen lassen.
Kroatien und Bosnien und Herzegowina konnten bis zum Juni noch mit den niedrigsten Infektionszahlen in Europa glänzen, seit den Lockerungen im Alltagsleben aber ist das Virus von Norden kommend hierhin vorgerückt. Einige ihre Verwandten besuchende Exil-Bosnier und Kroaten aus Italien, Schweden und Deutschland feierten mit ihren Familien Wiedersehen, Hochzeiten und das muslimische Bayramfest boten dem Virus einen nahrhaften Boden für seine Verbreitung.
Im Krankenhaus in Bosnien geht niemand mehr ans Telefon
In Sarajevo trafen sich junge Leute in den Shisha-Bars und feierten die neue Freiheit. Gläubige Muslime hielten zwar in den Moscheen die Abstände und das Maskengebot ein, doch nach dem Gebet traf man sich vor der Moschee, schwätzte, umarmte und küsste sich.
Angesichts des komplexen Staatsaufbaus in Bosnien und Herzegowina gelang den Regierenden kein gemeinsames Vorgehen gegen das Coronavirus. Zudem zeigten sich eklatante Schwächen des vernachlässigten Gesundheitssystems. In der in zehn Kantone gegliederten Föderation dürfen Kranke nur in ihrem Heimatkanton behandelt werden. In den Provinzen existieren aber kaum Behandlungsmöglichkeiten. Es gibt zu wenige Tests, Infizierte klagen, dass es ihnen unmöglich ist, die Notaufnahmen zu erreichen, weil niemand ans Telefon gehe.
Privatisierungen und Einsparungen veranlassten in den letzten Jahren Tausende von Ärzten, Krankenschwestern und Altenpfleger im besten Alter zur Emigration nach Deutschland und in andere EU-Staaten. Geblieben sind die Älteren, vor der Pensionierung stehenden Ärzte und junge Leute, die gerade ihren Abschluss hinter sich haben und deshalb kaum über eine ausreichende Berufserfahrung verfügen.
In Sarajevo sind nur wenige Menschen auf den Straßen zu sehen. „Die sind alle zu ihren Wochenendhäusern gefahren und verstecken sich dort, wir alle sind wieder vorsichtiger geworden“, sagt eine Frau. Im Supermarkt und in der Schlange vor der Post tragen alle Menschen Masken und halten die Sicherheitsabstände ein. Die Shisha-Bars in der Altstadt sind wieder geschlossen.
Unter den Menschen hat der Tod einer bekannten Psychologin für Empörung gesorgt. Noch drei Tage vor ihrem Tod am 11. August brachte die 37-Jährige Belma Šoljanin einen Sohn zur Welt. Dann wurde sie in eine Isolierstation verlegt und starb an dem Coronavirus. Das Baby ist immerhin wohlauf. Šoljanin war eine bekannte Aktivistin, die vor allem jungen Müttern und Schwangeren zur Seite stand, ihr Internetportal war gut besucht, viele Frauen profitierten von ihren Ratschlägen. Von Beginn an hatte sie vor dem Coronavirus gewarnt.
Hunderte von stadtbekannten Künstlern, Journalisten und Geschäftsleuten fordern nach ihrem Tod von den Behörden in Sarajevo, endlich ernsthaft gegen die Ausbreitung des Virus vorzugehen.
Diese Behörden aber gelten immer noch als unfähig, die Lage in den Griff zu bekommen. Immerhin ist die Anzahl der Infizierten zuletzt etwas gesunken. Nach offiziellen Zahlen kommen jetzt auf 100.000 Einwohner täglich etwa 160 Infizierte. Und so ist es kein Wunder, dass Bosnien und Herzogowina auf der Risikoliste des Auswärtigen Amts steht, ebenso wie Serbien, Albanien, Nordmazedonien, das Kosovo und Teile von Kroatien.
Erich Rathfelder, Split/Sarajewo
Disziplin in Spanien, aber die Zahlen steigen dennoch
Etwas läuft schief. Die Spanier nutzen Atemschutzmasken, wie sonst kaum eine Bevölkerung in Europa. Wer nur das Haus verlässt, muss sie aufsetzen, so ist es seit Anfang August in allen Regionen Vorschrift. Wenn keine zwei Meter Abstand zum Nachbarn möglich sind, darf man in der Öffentlichkeit nicht einmal mehr rauchen. Überall in den Geschäften stehen Mittel zur Reinigung der Hände. Die Menschen desinfizieren sich ununterbrochen.
Und dennoch schlägt die zweite Welle zu, wie sonst nirgends. Allein am vergangenen Wochenende vermeldete das Gesundheitsministerium über 19.000 neue Fälle, ein Drittel davon um Madrid, weitere 3.570 in Katalonien. Mittlerweile wurden über 400.000 Covid-19-Fälle bestätigt. Knapp 29.000 Tote sind zu beklagen.
In den vergangenen sieben Tagen waren landesweit über 80 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohnern zu verzeichnen. Die Hauptstadtregion Madrid führt die Statistik mit über 200 neuen Fällen an, Schlusslicht sind die Balearen mit 31. Die Inselgruppe rund um Mallorca ist damit eine der wenigen Regionen Spaniens unter der Quote von 50 pro 100.000, über der eine Region als Risikoregion eingestuft wird. Dennoch gilt die Reisewarnung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin für ganz Spanien mit Ausnahme der Kanarischen Inseln.
Wo genau sich die Menschen anstecken, ist meist nicht mehr nachzuvollziehen. Zwar wurden den ganzen Sommer über Infektionsherde ausgemacht, doch fehlt es an Personal, um die Kontakte konsequent zu verfolgen. Aus Infektionsherden wurden so flächendeckende Ansteckungen.
Ein Teil der Ansteckungen gehe, so das Gesundheitsministerium, auf das Nachtleben zurück. Um die Tourismus-Saison zumindest teilweise zu retten, durften nach dreieinhalb Monaten striktestem Lockdown Ende Juni selbst Diskotheken wieder öffnen. Die Gartenkneipen waren voll, die Restaurants gut besucht.
Doch was wohl am meisten zu den hohen Ansteckungszahlen beiträgt, ist das Sozialleben der Spanier. Der Sommer ist die Zeit, in denen sich Freunde und Familien treffen. Bei gemeinsamen Feiern werden die Sicherheitsmaßnahmen schnell vergessen. Im vertrauten Kreise sind sich nur die Wenigsten der Gefahr bewusst. So mancher Infektionsherd ging von ebendiesem geselligen Zusammensein aus.
Ein dritter Punkt sind die prekären Arbeitsverhältnisse in der spanischen Landwirtschaft. Mehrere Infektionsherde befinden sich in Regionen, in denen derzeit Obst und Gemüse geerntet wird.
In den kommenden Tagen werden die Vertreter der Regionalregierungen und die entsprechenden Ministerien der Zentralregierung Konferenzen abhalten, um weitere Maßnahmen zu vereinbaren. Einen landesweiten Lockdown wie im März wird es wohl kaum wieder geben. Die Wirtschaft würde einen zweiten Stillstand nicht überleben. Doch was sich abzeichnet, sind lokale und regionale Lockdowns und eine starke Einschränkung der Mobilität zwischen den Regionen.
Reiner Wandler, Madrid
Zweite Welle? Nicht in Schweden
Zweite Welle? In Schweden ist sie nicht in Sicht. Anfang Juli ging die Infektionskurve steil nach unten und liegt derzeit auf einem etwa gleichbleibendem Niveau. Die Zahl der Infizierten hat sich in der vergangenen Woche auf etwa 20 pro 100.000 Einwohner eingependelt, die Tendenz scheint gleichbleibend.
Die Reaktion der Regierung ist entsprechend: Weder Verschärfung noch Erleichterungen der bisherigen Linie. Eine Quarantäne- oder Testpflicht nach Auslandsreisen wurde nicht eingeführt. Bei den Empfehlungen zur Kontaktbeschränkung ist es geblieben und es gibt auch keine grundsätzliche Lockerung bei den beiden einzigen Verboten.
So gilt nach wie vor ein Besuchsverbot in Altenpflegeeinrichtungen, das in der Praxis aber nun etwas lockerer gehandhabt wird, und weiterhin bleiben Versammlungen mit mehr als 50 TeilnehmerInnen untersagt. Auf Drängen von Sportvereinen und Kulturinstitutionen wird allerdings derzeit an individuellen Ausnahmeregelungen gefeilt. Eine Mund-Nasen-Schutz-Pflicht in der Öffentlichkeit existiert dagegen nicht.
Der Unterricht an Schulen hat wieder begonnen und auch an Gymnasien ist man zum Präsenzunterricht zurückgekehrt. Die nie geschlossenen Kitas und Schulen gelten zusammen mit dem Verzicht auf einen Lockdown als Gründe dafür, dass Schwedens Wirtschaft im ersten Halbjahr 2020 im Vorjahresvergleich mit 7,9 Prozent nur halb so massiv abgestürzt ist wie das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt der EU-Staaten.
„Was wir anders als viele andere Länder gemacht haben, war ja das Offenhalten der Schulen“, erklärte Ministerpräsident Stefan Löfven am Wochenende: „Auch wenn es zu früh ist, schon Bilanz zu ziehen, glaube ich, dass wir den richtigen Weg gewählt haben.“ Allerdings hat dieser Weg bisher mehr als 5.800 Menschenleben gekostet, womit Schweden zu den Staaten mit der höchsten Todesrate in Europa zählt.
Schweden ist vor einigen Wochen von der Liste der Risikoländer des Auswärtigen Amts gestrichen worden.
Reinhard Wolff, Stockholm
Niederlande: Hotspot in Amsterdam
Die Niederlande verzeichneten ab der zweiten Juli-Hälfte einen deutlichen Anstieg der Infektionen. Ein erwartbares Szenario nach der schrittweise Aufhebung des Lockdowns – doch im August nahm diese Tendenz so stark zu, dass Premier Mark Rutte dringend zu vorsichtigerem Verhalten aufrief – oder man stehe „wieder am Anfang“.
Neue einschneidende Maßnahmen wurden vorerst nicht ergriffen. Der Aufruf scheint indes zu fruchten: Mitte August setzte eine Trendwende ein, die Zahl der Neuinfektionen ist leicht rückläufig. Krankenhaus-Aufnahmen und Todesfälle hingegen steigen weiter und spiegeln die steigende Kurve dieses Sommers wider.
Von der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes sind die Niederlande ausgenommen – anders als etwa Belgien und Frankreich. Größte Brandherde sind Amsterdam und Rotterdam. Zuletzt stieg die Zahl der Urlaubsrückkehrer, die positiv getestet wurden, deutlich an.
Eine allgemeine Maskenpflicht gibt es in den Niederlanden nicht. In Amsterdam, wo man wegen viel besuchter Touristenattraktionen besonders aufmerksam ist, wurde daher im August ein obligatorischer Mund-Nasen-Schutz für einige Gebiete eingeführt. In einzelnen Schulen sind Masken seit Beginn des Schuljahrs Pflicht.
Auch in den Niederlanden wird gegen die Coronamaßnahmen demonstriert. Zuletzt eskalierte eine Demonstration in Den Haag. Symbolisch und inhaltlich überschneiden sich die Proteste mit denen von Bauern und Gelbwesten.
Viel diskutiert wird derzeit der scheinbar unzusammenhängende Ansatz der Regierung. Die Konzentration auf lokale Maßnahmen gibt den sogenannten Sicherheits-Regionen, einer Verwaltungseinheit zum Katastrophenschutz, eine größere Rolle.
Mit fortdauernder Pandemie wird deren Bekämpfung in den nächsten Monaten zunehmend politisch aufgeladen, denn in den Niederlanden finden im März Parlamentswahlen statt.
Tobias Müller, Amsterdam
Großbritannien: Weniger Tote, mehr regionale Ausbrüche
Das Vereinigte Königreich macht Schlagzeilen mit den Rekordzahlen an Toten. 42.000 Menschen sind dem Covid-19-Virus erlegen, eine Zahl, die aufgrund neuer Rechnungen um 5.000 gesunken ist. Denn Personen, die nicht innerhalb von 28 Tagen an Covid-19 gestorben sind, werden nun nicht mehr als Coronatote gezählt. Aber immer noch ist Großbritannien das Land mit der höchsten Todeszahl in ganz Europa und liegt weltweit an fünfter Stelle. Inzwischen sind die Brandherde eher regional zu finden, etwa im Raum Manchesters, vor allen in Oldham, und in den Midlands in Northampton. Regionale Lockdowns sollen dem begegnen. Von einem landesweiten Lockdown will Premierminister Boris Johnson nicht mehr Gebrauch machen. Das gleiche einer Verteidigung mit Atomwaffen, sagte er.
Landesweit gelten Kontaktbeschränkungen. So dürfen sich nur maximal 30 Personen treffen. Theater und Musikveranstaltungsorte dürfen allerdings mit Distanzierungsauflagen wieder öffnen. Ein Mund-Nasen-Schutz ist in allen öffentlichen Verkehrsmitteln vorgeschrieben. In den Hotspots gelten schärfere Maßnahmen. Großbritannien gilt dem deutschen Auswärtigen Amt derzeit nicht als ein Risikoland.
Die Regierung Johnson hat inzwischen einen Sündenbock für die Krise gefunden. Regierungsvertreter verweisen auf die gesundheitliche Aufsichtsbehörde Public Health England. Mitte August wurde ihre Auflösung angekündigt. Vorbild für das neue National Institute for Health Protection ist das deutsche Robert-Koch-Institut. Kritiker behaupten, mit dieser Maßnahme wolle die Regierung ihr eigenes Versagen vertuschen.
Mit den sich beständig wieder erhöhenden Infektionsraten wird die Frage der Öffnung der englischen Schulen im September zum Problem, auch wenn die Regierung weiterhin behauptet, der Unterricht werde sicher sein. In Schottland, wo in den Schulen bereits wieder unterrichtet wird, mussten bereits zwei Lehranstalten nach Infektionen wieder schließen. Und just in dem Moment, wo über eine Rückkehr von Zuschauer*innen bei Sportveranstaltungen mit begrenzter Besucherzahl nachgedacht wurde, infizierten sich über ein Dutzend Fußballspieler der englischen Premier League aus zwölf verschiedenen Vereinen mit dem Coronavirus.
Als Waffe gegen weitere Infektionswellen hat die britische Regierung 340 Millionen Impfstoffdosen von verschiedenen Pharmakonzernen bestellt, obendrein will Gesundheitsminister Matt Hancock die Corona-Testkapazitäten erheblich erhöhen.
Daniel Zylbersztajn, London
Italien: Corona aus Sardinien
„Bitte die Maske auf!“ Selbst in dem kleinen Gemüseladen in dem abgelegenen kalabrischen Dorf, ganz unten an Italiens Stiefelspitze, kommt sofort der freundlich-bestimmte Hinweis für den vergesslichen Kunden, auch wenn im Ort seit Ausbruch der Pandemie kein einziger Coronafall zu beklagen war. Italiens Badeorte sind voll, doch dieses Jahr macht das Land Ferien im Seuchenmodus.
Patronatsfeste, größere Konzerte, Feuerwerke – alles ist abgesagt. Und doch hat das rege Reisen von Millionen Italiener*innen die Infektionskurve wieder deutlich nach oben gezogen. Hatte die Zahl der täglichen Neuinfektionen noch Mitte Juli bei etwa 200 gelegen, so überschritt sie in der letzten Woche die Marke 1.000.
Anders als im Frühjahr allerdings stecken sich jetzt viel mehr junge Menschen an: Der Altersdurchschnitt der positiv Getesteten sank von über 60 auf nur noch gut 30 Jahre. Auch deshalb ist das Gesundheitssystem bisher noch nicht unter Druck geraten, viele Infizierte sind symptomfrei.
Dennoch reagierte die Regierung in Rom sofort auf den neuen Anstieg. Schließlich steht die wahre Bewährungsprobe noch bevor: Mitte September sollen acht Millionen Schüler*innen und über eine Million Lehrer*innen wieder zum Präsenzunterricht antreten, von der Kinderkrippe bis zum Gymnasium.
Wer immer aus Risikoländern wie Spanien, Malta oder Kroatien zurückkehrt, muss sich jetzt einem Pflicht-Abstrich unterziehen. Doch in den letzten Tagen fiel auf, dass der größte Infektionsherd im eigenen Land zu finden ist, in Nordsardiniens Party-Hotspot Costa Smeralda. In Rom etwa waren stolze 40 Prozent der Neuinfizierten Sardinien-Rückkehrer*innen. Deshalb verfügte der Gesundheitsminister umgehend die Schließung aller Diskotheken des Landes. Und auch die Maskenpflicht wurde verschärft. Sie gilt jetzt nicht mehr nur in Geschäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch auf den Straßen und Plätzen der Ausgehviertel, auf denen der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann.
Für das deutsche Auswärtige Amt gilt Italien nicht als Risikogebiet, mit gutem Grund. Wöchentlich infizieren sich gegenwärtig etwa 12 von 100.000 Personen. Die Regierung hofft, dass mit dem Urlaubsende die Kurve wieder abflacht. Am Dienstag blieb die Zahl der Neuinfizierten bei 878 – und damit am zweiten Tag in Folge unter 1.000.
Michael Braun, Rom
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