Die Blockade Leningrads vor 80 Jahren: „Niemand ist vergessen“
872 Tage lang dauerte die Blockade Leningrads durch die Wehrmacht. Mehr als eine Million Menschen verhungerten. 80 Jahre danach: Ein Zeitzeuge erinnert sich.
D er Schrecken dauerte 872 Tage. An jeden einzelnen, den Ephraim Moiseewitsch Steinbock davon in Leningrad durchlebt hat, kann er sich bis heute erinnern. Zum Beispiel an den Tag, als ein Cousin seines Vaters aus dem Haus ging und nicht mehr zurückkam. Einfach so verschwand.
Weil er wohl vor Schwäche auf der Straße zusammengebrochen war und niemand die Kraft hatte, ihm aufzuhelfen. Oder als er begriff, dass die Leiche seines Vaters nach der Beerdigung wieder aus der Erde geholt, der leblose Körper einfach auf einen Leichenberg geworfen wurde und die Totengräber das Loch für den nächsten Toten verwendet hatten. Oder aber als seine Mutter, geschwächt vor Hunger, vor seinen Augen verstarb, er ihre letzten Worte nicht mehr verstand und damit zur Waise wurde.
Ephraim Moiseewitsch Steinbock, 93, ist Überlebender der Leningrader Blockade. Die 872 Tage, während der die Wehrmacht das heutige Sankt Petersburg umschlossen hatte, betrachte er als wichtigstes Ereignis seines Lebens, sagt Steinbock. Sie habe sein Leben, habe ihn verändert. Heute lebt er mit seiner Frau Geta, ebenfalls Überlebende der Blockade, im kanadischen Calgary.
Kurz bevor die Wehrmacht die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überfällt, wird Steinbock 13 Jahre alt. Er hat gerade die fünfte Klasse abgeschlossen, freut sich auf einen schönen Sommer. Zu diesem Zeitpunkt versteht er aber noch nicht, was dieser Krieg anrichten wird. Wie er alles für ihn verändern wird.
Steinbocks älterer Bruder wird im August 1941 an die Front eingezogen. Steinbock und seine Eltern versuchen zwar noch die Stadt mit einem Evakuierungszug zu verlassen, doch kurz vor ihrer Abreise wird dieser ausgesetzt. Die Deutschen hätten Leningrad schon eingeschlossen, heißt es. Die Familie bleibt in der belagerten Stadt zurück. Am 8. September 1941, dem Tag, als die Wehrmacht den Belagerungsring endgültig um Leningrad schließt, endet Steinbocks Kindheit.
Teil eines Vernichtungskriegs
Die Blockade um Leningrad war ein Teil des Vernichtungskriegs im Osten. Sie war „ein genozidaler Akt, bei dem rund 1,1 Millionen Menschen gestorben sind“, sagt Hans-Christian Petersen. Er lehrt am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, unter anderem mit Schwerpunkt auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Die Stadtbevölkerung, also Zivilisten und Zivilistinnen, sollte gezielt ausgehungert werden. „Das macht es zu einem Kriegsverbrechen“, sagt er. Zudem stand die Stadt unter ständigem Artilleriebeschuss.
Hitler fantasierte vom Idealbild des „Ostraums“, der bis zum Ural als deutsches Siedlungs- und Versorgungsgebiet in Besitz genommen werden sollte. Der verbrecherische Plan sah vor, fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen und im Westen der Sowjetunion anzusiedeln. Der „Osten“ sollte so germanisiert werden. 31 Millionen Menschen wollte man insgesamt deportieren oder ermorden, ganze Städte und Dörfer entvölkern. 14 Millionen „Fremdvölkische“ sollten außerdem Arbeitssklaven werden.
Die Wehrmacht sollte aus dem Land versorgt werden. Auf Kosten der ansässigen Bevölkerung, denn für ihre Versorgung wollte man nicht aufkommen. Der Hunger und somit auch der Tod waren einkalkuliert.
Der Krieg gegen die Sowjetunion, das „Unternehmen Barbarossa“, hatte zwei Ziele: zum einen „Lebensraum“ zu schaffen, begründet durch die rassistische Kategorisierung in „slawische Untermenschen“, zum anderen die slawische und jüdische Bevölkerung aus diesen Gebieten zu deportieren und zu ermorden.
Leningrad war in diesem Plan zentral. Noch im Juli 1941 hatte Hitler der Wehrmachtsführung mitgeteilt, Leningrad als „Geburtsstätte des Bolschewismus“ dem Erdboden gleichmachen zu wollen. Auch für Stalingrad und Moskau gab es solche Pläne. Im September folgte dann der Befehl, dass Leningrad nicht erobert, sondern abgeschlossen und ausgehungert werden sollte.
„Kein Interesse an der Erhaltung dieser Bevölkerung“
Es war ein Massenmord mit Ansage. Ein Verbrechen, bei dem die Massenmörder nicht anwesend sein mussten. „Sich aus der Lage der Stadt ergebenden Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht (…) unsererseits nicht.“ So steht es in einer geheimen Direktive des Stabes der deutschen Kriegsmarine vom 22. September 1941. Titel: „Über die Zukunft der Stadt Petersburg“.
2,5 Millionen Menschen lebten zu Beginn der Belagerung in der Stadt. Bald schon begann das Hungern, und es begann auch das Sterben. Nach und nach wurden die Lebensmittel knapper, Kantinen und Restaurants mussten schließen. Bereits im September 1941 wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Man spürte, dass schwere Zeiten bevorstanden, erinnert sich Ephraim Steinbock.
Der Tiefpunkt war im November erreicht: Arbeiter erhielten da nur noch 250 Gramm Brot am Tag, ihre Angehörigen gerade einmal 125 Gramm. Weil es nicht genügend Mehl gab, wurde das Brot mit anderen Zutaten wie Zellulose, Kleie oder Kiefernnadeln gestreckt. Alles, was man fand, wurde zu Nahrung verarbeitet. „Wir haben alles gegessen“, sagt Steinbock. Manchmal kochten sie Leim, ein anderes Mal kauten sie Leder. Bald verschwanden die Tiere von den Straßen, denn auch sie wurden gegessen. Über den zugefrorenen Ladogasee kam zeitweise noch Nahrung in die Stadt. Doch die „Straße des Lebens“ war zynischerweise lebensgefährlich: Lastwagen brachen im Eis ein oder wurden vom Beschuss der Wehrmacht erwischt.
Auch Kannibalismus ist dokumentiert. Im ersten Blockadewinter 1941/42 registrierten die sowjetischen Behörden mehr als 1.000 Fälle. In der Blokadnaja Kniga, dem „Blockadebuch“ von Daniil Granin und Ales Adamowitsch, sind Erinnerungen daran festgehalten. Erst 2018 erschien das Zeitdokument unzensiert in Deutschland. Es gibt unglaubliche Einblicke in das Leiden ganz gewöhnlicher Leningrader. In „Die fehlenden Kapitel“ wird die Geschichte der dreijährigen Nina erzählt. Auf die Frage einer Nachbarin, „Ninotschka, wo ist Galja?“, antwortet das Mädchen: „Galja haben wir gegessen.“ Die Nachbarin tritt daraufhin in das eiskalte Zimmer und findet dort „die Mutter halb von Sinnen“. Und an der Wand „den hart gefrorenen Leichnam ihrer älteren Tochter“.
Das Martyrium stundenlangen Schlangestehens
Schlange zu stehen wurde zur zentralen Beschäftigung. Auch Steinbock verbrachte seine Tage damit. Warten in der Schlange, in der Hoffnung, etwas Brot zu ergattern. Schlange zu stehen erforderte Ausdauer und Kraft, die die geschwächten Menschen kaum mehr hatten. „Die Schlange ist eine Kombination von völliger Untätigkeit und beschwerlichem Aufwand an Körperkraft“, schrieb Lidia Ginsburg in ihren „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“. Ginsburg beschreibt darin zwei Arten von Schlangen: die einen, die Sinn machten, und solche, die „Auswüchse von Hungerwahn“ waren. Wenn sich schon morgens um fünf Uhr eine Menschenmenge sammelte, „das Martyrium stundenlangen Schlangestehens“ ertrug, „obwohl sie wussten, dass das Geschäft schon um zehn oder elf wieder leer sein würde“.
Auf den Hungerwahn folgte das Massensterben. Der Winter 1941/42 war besonders kalt, die Temperaturen fielen auf bis zu –40 Grad Celsius. Zum ersten Mal in seinem Leben sah Steinbock einen Toten. Nahe einer Poliklinik wurden Verstorbene in Laken gewickelt und einfach nach draußen gelegt. Wenn Steinbock die Straßen betrat, sah er überall leblose Körper liegen, die vor Schwäche einfach umgefallen waren. Der Tod gehörte bald zum Stadtbild.
In dieser Zeit, erinnert sich Steinbock, wurde er depressiv. „Es gab nichts zu essen, ich wollte nicht leben“, sagt er. Einzig die Fürsorge und Wärme seine Eltern hätten seinen Zustand verbessert.
Dann, Ende Januar 1942, legte sich Steinbocks Vater ins Bett und stand nie wieder auf. Sie beerdigten ihn in einem zusammengezimmerten Sarg. Auf dem Weg zum Friedhof fuhren sie an Leichenbergen vorbei. Nicht mehr lange, und auch Steinbocks Mutter starb. Nachdem es im Frühjahr wieder einige Lebensmittel gegeben hatte, das Eis langsam taute und sich Hoffnung breitmachte, verkraftete der ausgezehrte Körper von Steinbocks Mutter das vergleichsweise reichliche Essen nicht. Auch sie legte sich hin und stand irgendwann nicht mehr auf. Am 13. Mai 1942 wurde Ephraim Steinbock zum Waisenkind. Zum ersten Mal, seit der Krieg begonnen hatte, weinte er.
Der Schrecken, festgehalten in Tagebüchern
Die Schrecken, die sich in den 872 Tagen der Belagerung abspielten, sind gut dokumentiert, vor allem durch Tagebücher. Es sei außergewöhnlich, wie viele Menschen, die vor dem Krieg keine solchen Kladden geführt hatten, damit begannen, sich Notizen zu machen über das, was sie umgab, und über das, was sie beobachteten, sagt Ekaterina Makhotina. Die in St. Petersburg geborene Osteuropahistorikerin forscht an der Universität Bonn unter anderem zu Erinnerung und Geschichtspolitik in Russland und im östlichen Europa.
Ging es zu Beginn in den Tagebüchern noch um Artilleriebeschüsse, füllten sich die Seiten bald mit den Hungergefühlen, sagt Makhotina. „Das Brot habe ich fast schon ganz gegessen, was sind schon 125 g, das ist eine kleine Scheibe, aber die Bonbons muss ich irgendwie auf zehn Tage verteilen. Erst habe ich mit täglich drei Bonbons gerechnet, aber ich habe schon neun Stück gegessen“, schreibt die 16-jährige Lena Muchina. Ihre Aufzeichnungen erschienen in deutscher Übersetzung erstmals im Jahr 2013.
„Viele notieren, wie viele Stunden Schlange sie für ein Stück Brot anstanden und auch das lange Warten auf die Angehörigen, die auf Nahrungssuche waren“, sagt Makhotina. So schreibt Lazar Mojzhes am 3. November 1941: „Alle Gespräche (in den Schlangen) konzentrieren sich auf 200 Gramm Brot, auf Kartoffel, mit einem Wort auf das Thema des Magens, welches jetzt über alles dominiert.“
Dem Tagebuch kam eine besondere Rolle zu: Es diente als Disziplinierung, half dabei, sich zu ermahnen, nicht alle Essensrationen auf einmal zu verbrauchen. Oder um sich vom Hunger selbst abzulenken, denn es gab nicht viel zu tun außer auf die nächste Mahlzeit zu warten. Schreiben, um zu überleben.
So wie der Hunger war auch der Tod für die Leningrader allgegenwärtig. Er verlor allmählich an Bedeutung. So notiert die damals 12-jährige Tanja Sawitschewa: „13. April um 2 Uhr morgens – Onkel Wasja starb. 11. Mai um 4 Uhr nachmittags – Onkel Joscha starb. 13. Mai um 7.30 Uhr morgens – Mama starb. Die Sawitschews sind tot. Alle tot. Nur Tanja ist noch übrig.“
Die Blockade sei auch heute noch ein Teil der Petersburger städtischen Identität, sagt die Osteuropahistorikerin Makhotina. Nicht nur der Staat initiiert Veranstaltungen. Was die Stadt auszeichne, ist, dass es eine Vielfalt an gesellschaftlichen Initiativen oder Aktionen gebe, sagt sie. So versammeln sich zum Beispiel jedes Jahr am 8. September Bewohner:innen eines Wohnhauses im Hof und verlesen die Namen der Menschen, die zur Zeit der Blockade dort gelebt haben und an Hunger gestorben sind. Die Menschen von damals werden so aus der Vergessenheit geholt.
Auf dem Piskarewo-Gedenkfriedhof in St. Petersburg legen Menschen Blumen, Brot oder Zucker auf die Gräber. Eine halbe Million Leningrader soll dort in Massengräbern begraben liegen. Eine Granitmauer trägt dort ein Gedicht der Überlebenden Olga Bergolz, der „Stimme der Blockade“. In den 872 Tagen der Einkesselung las sie Gedichte übers Radio, die den Alltag in Leningrad widerspiegelten und die Menschen am Leben halten sollten. Der letzte Satz auf dem Granit am Friedhof gehört wohl zu den bekanntesten: „Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.“
„Der Tod begann, wortlos und still, am Krieg teilzunehmen“
Am 27. Januar 2014 betritt ein alter Mann schweren Schrittes das Rednerpult im Bundestag. Er trägt einen zu großen grauen Anzug, der ihm verrutscht ist, mit der rechten Hand stützt er sich auf einen Gehstock. Daniil Granin, damals 95, russischer Schriftsteller, Soldat an der Leningrader Front und Blockadeüberlebender, beginnt zu sprechen. Man hat ihn eingeladen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Granin spricht fast vierzig Minuten, klar und auch voller Poesie („Der Tod begann, wortlos und still, am Krieg teilzunehmen“), wehrt mehrfach den Versuch ab, ihm einen Stuhl anzubieten, erspart den Zuhörer:innen nichts.
Granin spricht als Soldat, wie er sagt, er erzählt von dem Hass, den er lange Zeit in sich trug. „Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. (…) Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.“
Granins Rede ist das vielleicht wichtigste Zeichen, das in Deutschland für die Erinnerung an Leningrad gesetzt wurde. Denn lange war die Geschichte der Belagerung weit weniger bekannt als die Geschichte anderer Vernichtungsorte.
Lange kein Gedenken in der Bundesrepublik
Bis 1990 habe es in der Bundesrepublik keine Form von offizieller Erinnerung an die Leningrader Blockade gegeben, sagt Osteuropahistoriker Hans-Christian Petersen. Geprägt ist die Erinnerung damals durch militärische Erzählungen ehemaliger Wehrmachtssoldaten und individueller Familienerzählungen. Die Belagerung von Leningrad gilt deshalb lange Zeit in Westdeutschland als normale militärische Operation. Sie bleibt ein vager Kriegsschauplatz.
Das, was heute als kulturelles Gedächtnis in Form von Museen oder Erinnerungsorten bezeichnet wird, habe es auch nicht gegeben, sagt Petersen. „Es ist eine Geschichte der Nicht-Erinnerung, eine große Leerstelle.“
Die Rolle der Wehrmacht wird über Jahrzehnte ausgespart. Stattdessen findet eine Trennung statt, zwischen den vermeintlich „normalen“ Kriegshandlungen, welche von Wehrmachtsoldaten ausgeführt wurden, und den Verbrechen, für die Hitler allein verantwortlich gemacht wird. „Alles, das nicht bestritten werden kann, allen voran die Schoah, wird ‚dem NS‘ angelastet, und der Rest firmiert unter vermeintlich normaler Kriegsführung“, sagt Petersen.
An die Verbrechen in Leningrad zu erinnern hätte bedeutet, eine Gesamtschuld nicht mehr bestreiten zu können. Denn wer über die Wehrmacht redet, redet über einen Großteil der deutschen Bevölkerung.
Die Deutsch-Russische Gesellschaft lädt gemeinsam mit dem Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu einer Gedenk- und Diskussionsveranstaltung ein. 12. 9., 18 Uhr, Tschaikowsky-Saal in Hamburg.
Auch die Anti-Atom-Kampagnen IPPNW und Ican erinnern an den Jahrestag. Edgar Selge wird Auszüge aus einer Rede von Daniil Granin vor dem Bundestag 2014 lesen. 8. 9., Hamburg, Freie Akademie der Künste, 19 Uhr.
Noch bis zum 3. Oktober ist im Deutsch-Russischen Museum die Open-Air-Ausstellung „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ zu sehen. Deutsch-Russisches Museum, Berlin-Karlshorst.
Die Landeszentrale für politische Bildung in Thüringen lädt zu Film und Gespräch zum 80. Jahrestag ein. Gezeigt wird der Film „Bohnenstange“ (Russland, 2019). 7. 9., Schauspielhaus Erfurt, 19.30 Uhr. (taz)
Ein Eisbrecher in der öffentlichen Debatte sei die zweite Wehrmachtsausstellung im Jahr 2001 gewesen, sagt Petersen. Das erste Mal seien die Wehrmacht und ihre Gesamtverantwortung für die Verbrechen in Osteuropa Thema gewesen.
In der DDR übernahm man das sowjetische Heldennarrativ. Leningrad galt darin als Stadt, die den „faschistischen Angreifern“ Widerstand geleistet hatte. Ein Zusammenhang zwischen der Aushungerungsstrategie und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurde nicht gezogen. Im Fokus stand der Sieg der Roten Armee. Dahinter rückten der Hunger oder Extreme wie Kannibalismus in den Hintergrund.
Für viele Überlebende aber sei die sowjetische Erinnerungskultur durch ihre Auslassungen und durch die Heroisierung eine gewisse Hilfe gewesen, sagt die Osteuropahistorikerin Ekaterina Makhotina. „Das Nicht-Erinnern wurde zu einer Art psychologischer Hilfe.“ Viele Überlebende brauchten Jahrzehnte, um über ihre Erlebnisse sprechen zu können. Die Rhetorik der Heroisierung fungierte als eine Hilfe, um nicht wahnsinnig zu werden, um weiterleben zu können, sagt Makhotina.
80 Jahre nach dem Beginn der Belagerung Leningrads hat es zwar Fortschritte in der Aufarbeitung und Erinnerung in Deutschland gegeben. Die 872 Tage bleiben allerdings im deutschen kollektiven Bewusstsein kaum präsent. Der Vernichtungskrieg im Osten und seine Opfer sind für die deutsche Gesellschaft mehrheitlich unbekannt.
Noch vor dem Ende der Blockade konnte Ephraim Steinbock in die Stadt Wologda evakuiert werden. Er kehrte später wieder nach Leningrad zurück. Seine Erinnerungen hat er vor Jahren für ein Projekt niedergeschrieben, das Geschichten Blockade-Überlebender sammelt. Vor einiger Zeit begann er erneut aufzuschreiben, was er erinnert. Für die Enkel, wie er sagt.
Am 18. Januar 1944 konnte die Blockade von Leningrad durchbrochen und beendet werden. Neun Tage später, am 27. Januar 1944, hatte die Rote Armee auch die letzten deutschen Soldaten aus der Stadt an der Newa vertrieben. Ein Jahr danach befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz.
Ephraim Steinbock kann die Blockadezeit niemals vergessen. Ihn und all die anderen Überlebenden dieses Schreckens sollte man deshalb ebenfalls niemals vergessen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“