Die Bewegung rund um den Taksim-Platz: Da bleibt kein Auge trocken
Jetzt geht die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Die Bewegung hat jedoch etwas, was sie von früheren Protestgenerationen unterscheidet: Humor.
ISTANBUL taz | Jede türkische Frau soll drei Kinder gebären, findet Recep Tayyip Erdogan – nur eine von unzähligen Maßregelungen der vergangenen Jahre, auf die der türkische Ministerpräsident nun eine Antwort erhält: „Wollt ihr immer noch drei Kinder?“ steht an einer Wand in der Nähe des zentralen Taksim-Platzes in Istanbul. Und in einer Seitengasse: „Wollt ihr wirklich drei Kinder wie uns?“
Bereits diese Replik zeigt, was die jungen Leute vom Gezi-Park und ihre Freunde im Rest des Landes von früheren Protestgenerationen in der Türkei unterscheidet: ihr Witz und ihre Ironie, mit der sie die Herrschenden der Lächerlichkeit preisgeben. So steht an einem ausgebrannten und als Barrikade genutzten Stadtbus: „Ihr habt euch mit der Generation angelegt, die bei GTA die Polizei schlägt.“
Dass Erdogan und seine Polizeiführer diese Anspielung auf „Grand Theft Auto“ ebenso wenig verstehen dürften wie die übrigen Verweise auf andere Computerspiele („Call of duty Taksim“) oder US-Fernsehserien („Recep Tywin Lannister“), macht die Sache nur noch lustiger.
Wandparolen und Sprechchöre werden zu Tweets, Tweets zu Parolen, die am Gezi-Park an Bäumen und Zelten hängen und rund um den Taksim-Platz an Fassaden, auf den Asphalt und jede andere sich bietende Fläche gesprüht sind.
Wer dort noch ein paar freie Zentimeter findet, kann selber eine Botschaft hinterlassen. Denn so, wie die Fliegenden Händler bei jedem Platzregen plötzlich Regenschirme feilbieten, haben sie nun Aufstandsbedarf im Sortiment: Atemschutzmasken, Taucherbrillen und eben Spraydosen. Dazu gibt es Maronen und Dosenbier, und wegen der vielen fahrbaren Köftestände ist der Platz abends derart in Rauch gehüllt, dass der Witz kursiert, Erdogan würde nun anstelle von Pfeffergas Grillqualm einsetzen.
Abkehr von Erlöserglauben
Eine der häufigsten Parolen lautet: „Die Lösung heißt Drogba.“ Dass der Fußballer Didier Drogba, der beim FC Chelsea zum Weltstar wurde und inzwischen bei Galatasaray spielt, zur „Lösung“ erklärt wird, verweist nicht nur darauf, dass die Ultras der großen Istanbuler Clubs maßgeblich an der Verteidigung des Taksim-Platzes beteiligt waren.
Fußballvereine präsentieren Neuzugänge gern als „Lösungen“, auch politische Parteien und Bewegungen haben ihre „Lösungen“: Erdogan, Atatürk, Sozialismus, was auch immer. „Lösung Drogba“ ist eine Absage an eine Politik der schablonenhaften Lösungen und heroischen Erlöser.
Doch der Spruch hat eine weitere Bedeutung: Drogba wird in der Elfenbeinküste nicht nur als Fußballer verehrt, sondern auch für sein Engagement, das Land nach dem Bürgerkrieg zu versöhnen. Erdogan hat in den vergangenen Tagen, wenngleich unfreiwillig, Ähnliches geleistet.
Alle vereint
Seine Anhänger stehen zwar weiter zu ihm, aber dem Protest angeschlossen haben sich inzwischen etliche zuvor verfeindete Gruppen: Kemalisten und Kurden, orthodoxe Linke und neue Liberale, Homosexuelle und „Antikapitalistische Muslime“, Ultras von Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray. „Tayyip, du hast alle vereint“, steht denn auch an der Einkaufsstraße Istiklal.
Kein Wunder also, dass sich diese jungen Leute Erdogans Wort von den „drei oder fünf çapulcus („Marodeuren“) sofort aneigneten. Der Begriff ging um die Welt, çapulcu-Witze machten derart die Runde, dass viele Aktivisten sie schon nicht mehr hören können.
Weiterhin variiert wird dafür „Diren Gezi-Parki“ („Leiste Widerstand, Gezi-Park“), die Parole vom Anfang der Proteste: „Diren Ankara“ („Leiste Widerstand, Ankara“), „Diren Afrika“ (zu Erdogans Afrikareise vorige Woche), „Diren Karo-Sakko“ (nach Erdogans Auftritt im karierten Sakko), „Diren Kapital“ (beim Hotel „The Marmara“, das wie alle Luxushotels am Taksim-Platz die vor der Pfeffergasorgie flüchtenden Menschen aufgenommen hat und in deren Foyers die Parkbesetzer weiterhin Handys aufladen, die Toilette besuchen oder einen Tee aufs Haus trinken können).
Spott gegen Pfeffergas
Nicht durch Worte, aber durch Taten hat die Polizei unfreiwillig zum Anwachsen der Bewegung beigetragen. Und sie hat deren Fantasie beflügelt. Die Menschen haben es inzwischen gelernt, sich, so gut es eben geht, gegen Pfeffergas zu wappnen.
In Ankara, wo es weiterhin Abend für Abend zu Straßenschlachten kommt, begrüßt die Menge die Polizei mit „Hurra, Pfeffergas“-Rufen, an Wänden steht „Pfeffergas knallt gut“, „Beim nächsten Mal bitte mit Erdbeergeschmack“ oder „Was haben die Reichen bloß für schöne Gasmasken“.
Ab und an wird es auch privat: „Der Wasserwerfer und ich sind seit zehn Tagen zusammen, das wird was Ernstes“, schreibt jemand. Es geht um die Liebe („Sag, Liebster, kämpft diese Frau da besser oder ich?“). Und es geht um die Mütter.
Auf der steilen und kurvigen Inönü-Straße, die sich vom Taksim-Platz zum Bosporus schlängelt und wo rund zwanzig Barrikaden von der Heftigkeit der Kämpfe zeugen, steht auf dem Asphalt: „Keine Sorge, Mama, ich bin weiter hinten.“ Und aus Protest an der mangelhaften, teils bizarren Berichterstattung der türkischen Fernsehsender: „Schalt den Fernseher aus, Mama.“ Keine unberechtigte Kritik eingedenk dessen, dass beispielsweise CNN-Türk am Samstag voriger Woche, als CNN-International live vom Taksim-Platz berichtete, nichts besseres im Programm hatte als eine Dokumentation über Pinguine.
Als Hüseyin Avni Mutlu, der Gouverneur von Istanbul, am Wochenende zur allgemeinen Überraschung twitterte, er würde am liebsten selbst im Gezi-Park übernachten, kam die Antwort: „Kommen Sie nicht über Dolmabahçe, da könnte eine Polizeisperre sein.“ An der letzten Residenz der osmanischen Sultane zwischen Taksim und dem Nachbarbezirk Beşiktaş hatte in der vorigen Woche die Schlacht besonders heftig getobt.
Die Polizei hatte sich zurückgezogen
Tatsächlich aber konnte man da Platz und Park noch gefahrlos betreten. Die Polizei hatte sich zurückgezogen, das Stadtzentrum war eine befreite Zone, in der fast alle Geschäfte und Lokale trotzdem geöffnet hatten und auch nach dem Eingreifen der Polizei an diesem Dienstag weiter haben.
Dafür sind die Barrikaden nun eine touristische Attraktion. Manche Aktivisten ärgern sich darüber, andere nehmen auch das mit Humor. An einer Barrikade hat jemand ein Schild mit der Aufschrift „Aufstand-Souvenir“ angebracht, vor dem sich Besucher fotografieren. An einer anderen, wo der Rahmen einer zerstörten Werbetafel einen Durchlass bietet, saß am Wochenende ein çapulcu, der die Besucher nach traditioneller türkischer Art mit Kölnisch Wasser empfing.
All das heißt nicht, dass die Old-School-Organisationen verschwunden wären. Wo am Park selbstgemalte Transparente das Bild bestimmen und noch Aufrufe zur Besonnenheit witzig daherkommen („Bitte dieses Zelt nicht anzünden, wir haben die Raten noch nicht abbezahlt“), dominieren am Taksim-Platz die Banner und Losungen der ML-Gruppen und Linkskemalisten.
Und manchmal kommt es zum fröhlichen Wettstreit. So hat jemand unter ein im ML-Pathos verfasstes Transparent („Halt dein Rückgrat aufrecht – unterwirf dich nicht“) gesprüht: „Die Lösung heißt Pilates.“ Und als Antwort auf die Lieblingsparole der Kemalisten („Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal“) skandieren andere: „Wir sind die Soldaten von Mustafa Keser.“ Keser ist ein bekannter, eher volkstümlicher Musiker, dessen Fans nicht unbedingt in der Twitter-Jugend zu finden sind.
Los, sprüh dein Gas!
Dann gibt es Sprüche, auf die sich alle einigen können. „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“, eine linke Parole aus den Siebzigern etwa. Oder einen – hier frei übersetzten – Gesang von Çarşı, den Ultras des Fußballclubs Beşiktaş: „Los, sprüh dein Gas / Los, sprüh dein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, dass du dich traust.“
Vom Esprit der Bewegung beeindruckt ist auch Metin Üstündağ, Karikaturist der Penguen, einer von mehreren auflagenstarken Satirezeitschriften im Land, die natürlich schon vor der Doku auf CNN-Türk so hieß: „Der Humor dieser jungen Leute ist beeinflusst von den Satirezeitschriften. Aber es ist auch der Humor von Freundeskreisen und sozialen Medien, den die Kids noch im Gasnebel auf die Wände und Straßen tragen.“
Und dann sagt er: „Auch ich bin auf der Straße, ich fühle mich wie 17.“ Üstündağ ist um die 50 Jahre alt und in der Türkei ein Popstar. Und so wie ihm ergeht es in diesen Tagen vielen. Die jungen Leute haben nicht nur ein Land auf die Beine gebracht, sondern auch zum Lachen.
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