Deutscher tötet mit Auto Café-Besucher: Eine Stadt sucht eine Antwort
In Münster tötet ein Mann vorsätzlich. Es findet sich kein Motiv. Warum tat Jens R. das? Über eine Stadt, der die Ruhe abhanden kam.
An diesem Samstag aber ist sie noch voller als sonst: Es ist das letzte Wochenende der Osterferien, die Studenten kommen zurück, das Sommersemester beginnt. Wer Zeit hat, grillt am Aasee, auch die Cafés und Eisdielen der Stadt machen glänzende Geschäfte, kaum ein Platz bleibt frei. So wie das Traditionslokal „Großer Kiepenkerl“ mitten in der Innenstadt.
Am Nachmittag formiert sich eine Demonstration für den Frieden im syrischen Afrin. Fast jeder dritte Demonstrant schwenkt eine Fahne, der Bürgermeister von Afrin ist auch da. Dazu gesellen sich die ersten Fans von Preußen Münster, die sich über den Heimsieg ihrer Drittliga-Mannschaft gegen Wehen Wiesbaden freuen.
Dann geht es aber nicht weiter, die etwa 300 Demonstranten stecken plötzlich in der Windhorststraße fest, die vom Hauptbahnhof in die Innenstadt führt. Gegen halb vier wird klar: Irgendetwas stimmt hier nicht. Unentwegt fahren Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizeifahrzeuge durch die Stadt, ein Hubschrauber kreist über dem sonst so beschaulichen Münster. Ein Demonstrationsordner verkündet über sein Megafon, man könne nicht wie geplant in die Innenstadt weiterziehen, weil diese weiträumig von Polizei und Feuerwehr abgesperrt sei.
Langsam sickert durch: Vor dem Großen Kiepenkerl soll ein Mann mit seinem Auto mitten in die Menge der Caféhausgäste gefahren sein. Zwei Menschen seien gestorben, es gebe viele Verletzte. Die örtliche Tageszeitung, die Westfälischen Nachrichten, richtet einen Newsticker ein, bei Facebook können Münsteraner ihren Freunden signalisieren, dass sie sich in Sicherheit befinden. Der Kassierer im menschenleeren Lidl hat auch etwas gehört, seine Kollegin weint.
Ein VW-Bulli rast in die Menschenmenge
Am Sonntag liegen Blumen vor dem Denkmal des Kiepenkerls, nur wenige Meter vom Prinzipalmarkt in Münsters historischer Altstadt entfernt. Bei fast windstillem Wetter brennen Kerzen am Sockel der Figur, die an die fahrenden Händler erinnert, die früher die Bauern des Münsterlands mit Salz, Tuch und nicht zuletzt Nachrichten versorgten und ihnen im Gegenzug Lebensmittel abkauften.
Oberstaatsanwältin Elke Adomeit.
Der Tathergang steht nun fest: Am Samstag um 15.27 Uhr ist hier ein 48 Jahre alter, in Münster gemeldeter Deutscher mit seinem grau-silbernen VW-Campingbulli in den Biergarten der beiden Gaststätten Großer Kieperkerl und Kleiner Kiepenkerl gefahren. Die Terrasse am Spiekerhof Ecke Bergstraße war gut gefüllt. Bei der Todesfahrt wurden rund 20 Menschen zum Teil schwer verletzt. Eine 51 Jahre alte Frau aus dem niedersächsischen Kreis Lüneburg und ein 65-jähriger Mann aus dem münsterländischen Kreis Borken starben.
Unmittelbar nach der Tat erschoss sich der Fahrer selbst. Da zufällig ein Streifenwagen nur wenige Meter entfernt in einer Nebenstraße im Einsatz war, erschienen Polizeibeamte direkt danach vor Ort – und verhinderten wohl eine Panik.
Die Sicherheitskräfte wissen am Sonntag schon mehr über den Täter. Sie haben das Tatfahrzeug akribisch untersucht. Im Inneren finden sie außer der Waffe, mit der sich Jens R. selbst umgebracht hat, eine Schreckschusspistole und etwa ein Dutzend Polenböller. Sie haben nicht nur seine zwei Wohnungen in Münster durchsucht, sondern auch zwei weitere in Ostdeutschland. Sie finden in Münster eine unbrauchbar gemachte Maschinenpistole vom Typ AK 47. Keinerlei Hinweise gibt es hingegen auf einen islamistisches Motiv des Täters, über das unmittelbar nach der Tat so intensiv diskutiert worden ist.
Die Stadt ist aus den Fugen geraten
Die ansonsten so in sich ruhende Stadt Münster ist aus den Fugen geraten. Man merkt das, sobald man mit den Menschen ins Gespräch kommt. Die sitzen in sommerlichen Dress auf den Bänken rund um den Kiepenkerl, ruhig und nachdenklich, versuchen das Geschehene zu rekonstruieren und zu verstehen. „Von da oben ist er gekommen.“ Ja, von da oben vom Prinzipalmarkt ist er gekommen der Münsteraner, der mit seinem Campingbus. Der Brauereibesitzer Bernd Klute sagt: „Man kann das gar nicht verstehen, wie jemand zu so etwas fähig sein kann. Er muss schlimme Gedanken und psychische Probleme gehabt haben.“
Klute unterhält sich mit Siva Sivatharsanan, der gebürtig aus Sri Lanka kommt. Nur etwa 100 Meter weiter betreibt er die Köpi-Stuben. Er hat den lauten Knall gehört und das Schreien der Menschen. Er ist sofort zum Ort des Geschehens gerannt. „Lange habe ich es dort nicht ausgehalten, ich kann kein Blut sehen.“ So gut es geht, räumt er die Trümmer aus dem Weg, um Platz für die heraneilenden Rettungsfahrzeuge zu schaffen. „Es war so lange so ruhig hier bei uns, vielleicht sind wir jetzt dran“, sagt er trocken. Auf dem Handy zeigt er drastische Aufnahmen vom Kiepenkerl unmittelbar nach der Todesfahrt.
Vor Ort ist auch den evangelische Pfarrer Martin Mustroph, um als Notfallseelsorger ein unterstützendes Gespräch mit Mitarbeitern aus der Kiepenkerl-Gastronomie zu führen. Ja in Münster hilft man, unterstützt man sich. Eigentlich.
Seehofer: „Ein feiges und brutales Verbrechen“
Keine 21 Stunden nach der Tat, auf die Minute genau um Viertel nach zwölf am Mittag, legen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Nordrhein-Westfalens christdemokratischer Ministerpräsident Armin Laschet und sein Parteifreund und Innenminister Herbert Reul Blumen vor den Fachwerk- und Klinkerhäusern am Kiepenkerl nieder. Der Platz ist mittlerweile kleinräumig abgesperrt, in den Nebenstraßen parken Dutzende Polizeifahrzeuge. Vor Ort sind nur wenige BürgerInnen präsent, dafür aber rund dreißig Kamerateams. JournalistInnen berichten auf Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch.
„Aus Respekt vor den Opfern“ wollen sich die drei Politiker am Tatort nicht äußern, erklärt eine Sprecherin der Polizei. Was folgt, ist der Kampf um die besten Bilder: Seehofer, Laschet und Reul sollen vor der nahen Überwasserkirche reden, bleiben aber im Pressepulk stecken.
Also wird auf einer Brücke über dem Flüsschen Aa improvisiert: Im Kameragedränge versichern alle drei ihre Anteilnahme. Ministerpräsident Laschet spricht von „einem traurigen Tag für die Menschen in Münster, in NRW, in ganz Deutschland“. Seehofer nennt die Todesfahrt ein „feiges und brutales Verbrechen“, verspricht den Angehörigen der Toten und Verletzten „die Solidarität der ganzen Bundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin“.
Wie danach auch sein Landeskollege Reul betont der Bundesinnenminister, der Angriff mitten im Herzen Münsters sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ von einem deutschen Einzeltäter ausgegangen, der „keine Verbindung zum islamistischen Terrorismus“ gehabt habe. Allerdings werde weiter „in alle Richtungen“ ermittelt.
Wer war der Täter Jens R.?
Denn noch bleibt das Motiv des Todesfahrers unklar. Bei dem Mann soll es sich um den 1969 in Olsberg im Sauerland geborenen Jens R. handeln. Der beruflich offenbar wenig erfolgreiche Schmuck- und Industriedesigner soll psychische Probleme gehabt und auch schon einen Selbstmordversuch unternommen haben. Sowohl Münsters Polizeipräsident Hajo Kuhlisch als auch die Leitende Oberstaatsanwältin, Elke Adomeit, betonen aber, nach derzeitigem Stand gebe es „keine Hinweise auf einen politischen Hintergrund“ – auch kein rechtsextremer, über den in linken Blogs bereits ebenso spekuliert wird wie in Sicherheitskreisen.
Kuhlisch erklärt, Jens R. habe nicht nur vier Wohnungen gehabt, zudem seien dem 48-Jährigen mehrere Fahrzeuge und ein Container zugeordnet worden. Wozu Jens R. vier Wohnungen gebraucht haben könnte, erklärte Münsters oberster Polizist nicht. Beim vermuteten „Täterprofil“ sei dies aber nicht völlig untypisch, sagte Kuhlisch – und spielte damit offenbar auf die psychische Erkrankung des Todesfahrers an.
„Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“, sagt auch Staatsanwältin Adomeit. Zwar habe es 2015 und 2016 in Münster drei und im sauerländischen Arnsberg ein Ermittlungsverfahren gegen Jens R. gegeben. Dabei sei es um eine Bedrohung, aber auch um Unfallflucht, Sachbeschädigung und Betrug gegangen. Alle Verfahren seien eingestellt worden.
Entsprechend deutlich verurteilt insbesondere Ministerpräsident Laschet „diejenigen, die bei Twitter das Hetzen begonnen haben“ – ohne Namen zu nennen. Und er lobt die Besonnenheit und Solidarität der Münsteraner nach der Tat. Er würde sich wünschen, dass „diese besondere Münsteraner Erfahrung einer Friedensstadt“ auch diejenigen erreicht hätte, die „ganz schnell bei Twitter und anderswo wieder das Hetzen begonnen haben“. Für die Opfer sei die Religion der Täter egal, sie hätten einen Menschen verloren.
Die beiden Innenminister Seehofer und Reul danken ausdrücklich den Medien: Deren Berichterstattung sei „sehr verantwortlich“ gewesen, sagt Seehofer. Obwohl sicherlich viele an die Anschläge auf den Weihnachtsmarkt Berliner Breitscheidplatz und auf der Promenade des Anglais im französischen Nizza 2016 dachten, hätten die JournalistInnen „berichtet, was Fakt ist – und darauf kommt es an“, sagt Reul. Trotz Polizei in unmittelbarer Tatortnähe könne es „nie absolute Sicherheit auf Straßen, Plätzen, in Flugzeugen geben“, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister. „Wir können es nur bestmöglich versuchen.“ Später bringt Seehofer mehr Straßenpoller ins Gespräch.
Münster ist getroffen – an einem empfindlichen Punkt
Keine Frage: Münster ist an einem sehr empfindlichen Punkt, dem Sicherheitsgefühl seiner gut 300.000 Einwohner getroffen worden. Münster, diese ansonsten ruhige, wohlhabende, gebildete und friedliche, kunstsinnigen Stadt, die Stadt der Skulptur Projekte, die Stadt, in der die AfD bei der letzten Bundestagswahl bundesweit am schlechtesten abgeschnitten hat, steht urplötzlich im Fokus der Gewalt. In Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens, wo im Rathausinnenhof die Skulptur von Eduardo Chillida mit dem Titel „Toleranz durch Dialog“ steht, wird weltweit durch einen Mordanschlag bekannt.
Auf der anderen Seite des Rathauses hängt die Fahne jetzt auf Halbmast, im Rathaus wurde ein Kondolenzbuch ausgelegt, am Abend wird ein Gedenkgottesdienst für die Opfer stattfinden. In wenigen Wochen soll in Münster der 101. Katholikentag eröffnet werden, mit hoher Promidichte und Zehntausenden Besuchern. Gewiss wird in den nächsten Tagen die Frage aufkommen: Können wir eigentlich die Sicherheit unserer Besucher noch garantieren? Reichen da ein paar Poller auf dem Domplatz und an anderen sensiblen Stellen der Stadt aus? Wie viel Polizeischutz verträgt so eine Veranstaltung?
Einer der die Stimmung in der Stadt in einem der zahllosen Facebook-Postings zum Thema auf den Punkt bringt, ist der Münsteraner Liedermacher Detlev Jöcker, der schon ein Lied für den Kirchentag komponiert hat: „Was für ein großes Leid wurde hier unschuldigen Menschen zugefügt, das einige jäh aus ihrem Leben herausgerissen und andere an Leib und Seele verletzt hat. Unsere geliebte Stadt hat ihre Unschuld verloren. Diese unfassbare Tat wird Narben hinterlassen. Martialische Schreckensbilder mit Tötungsfantasien aus Internet-Ballerspielen wurden Wirklichkeit. Das alles macht so unendlich traurig!“
Auch der fast in Münster schon eingemeindete Darsteller des Tatort-Gerichtsmediziners Börne, Jan-Josef Liefers, versucht „seinem“ Münster Mut zu machen. „Ohne alle Details und Motive zu kennen, reichen die Bilder und entsetzlichen Nachrichten aus Münster, um mir das Herz zu brechen. Münster ist einer der friedlichsten und freundlichsten Orte, die ich kenne, und so wird es bleiben, trotz dieses feigen und kranken Anschlags.“ Sein Kollege Axel Prahl schreibt: „Ich bin schockiert und traurig“. Ich wünsche den Familien und Angehörigen der Opfer jetzt ganz viel Kraft und den Verletzten eine hoffentlich schnelle und vollständige Genesung. Wir denken an Euch. Münster, bleib wie Du warst und wie wir Dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz. Lass Dich jetzt nicht unterkriegen.“
In Münster hätte am Sonntag eigentlich die Sonne scheinen sollen. Ja, warm ist es, aber weiß-grau-blaue Wolken hängen am Morgen danach über der Stadt. Wenn über die Promenade durch die Stadt fährt, fällt auf, wie viel leerer als sonst es an diesem Tag ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!