Deutsche Kolonialverbrechen und Schule: Black History Matters
An einer Schule haben Schüler:innen eine Black History Class entwickelt. Sie fordern, dass Kolonialverbrechen Teil des Stundenplans werden.
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An Tag zwei ihres dreitägigen Seminars an der Nelson-Mandela-Schule steht Sima Luipert im Raum 111/112 und erzählt von ihren Vorfahren: von ihrer Urgroßmutter, die in einem Konzentrationslager die Schädel der Ermordeten reinigen musste, damit das Deutsche Kaiserreich sie vermessen und in Museen ausstellen konnte. Von ihrer Großmutter Katrina, die weiße Haut hatte, weil deutsche Soldaten in der Kolonie Deutsch-Westafrika massenhaft Gefangene vergewaltigten.
Und von ihrem Ururgroßvater Cornelius Frederick, der heute noch irgendwo in einem deutschen Museumskeller liegt. „Nach unserem Glauben kann seine Seele erst ruhen, wenn er in seiner Heimat begraben ist“, ruft Luipert auf Englisch in den Raum. „Wann gibt uns Deutschland endlich seine Knochen zurück?“
Luipert ist Mitglied der Nama Traditional Leaders Associaton, der politischen Vertretung der Nama in Namibia. Normalerweise trifft sich die 52-Jährige in Deutschland mit Politiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen, um über Reparationszahlungen der Bundesregierung für den Genozid deutscher Truppen an den Nama und Herero zu sprechen. An diesem sommerlichen Junitag sagt sie zu knapp 20 Schüler:innen vor ihr: „Die deutschen Kolonialherren haben meine Vorfahren enteignet, gejagt, versklavt und getötet. Das ist auch eure Geschichte“.
Wut und Fassungslosigkeit
Was Sima Luipert über die deutschen Besatzer im heutigen Namibia erzählt, löst im Klassenzimmer Fassungslosigkeit und Wut aus. Die meisten hören zum ersten Mal von dem blutigen Kapitel der deutschen Geschichte, obwohl ein Großteil von ihnen schon die 12. Klasse besucht. „Wir haben in der Achten mal über Bismarck gesprochen“, erinnert sich eine Schülerin. „Da ging es aber nur darum, dass Deutschland auch Kolonien haben möchte.“ Eine Mitschülerin fragt: „Wie kann es sein, dass wir noch nie von diesen Verbrechen gehört haben? In dem Land, das weltweit für die systematische Vernichtung von Menschenleben bekannt ist?“
Tatsächlich machen die Bundesländer wenige Vorgaben, ob und wie Schulen die deutsche Kolonialgeschichte behandeln sollen – auch in Berlin. Der Völkermord an den Nama und Herero ist jedenfalls kein verpflichtender Bestandteil des Unterrichts. Schüler:innen könnten problemlos zum Abitur kommen, ohne von den Verbrechen der deutschen Kolonialzeit gehört zu haben, sagt Hanna Urbahn, die an der Nelson-Mandela-Schule Geschichte unterrichtet. Leider gebe es in den Lehrplänen viele solcher weißen Flecken. Und im Fach Geschichte müsse man „immer reduzieren“ – auch um den Stoff für das Zentralabitur durchzubekommen. Den Impuls von außen begrüßt Urbahn deshalb sehr.
Seminar auf Initiative der Schüler:innen
Seit einem Jahr findet an der Nelson-Mandela-Schule ein Seminar zu Schwarzer Geschichte statt – auf Initiative der Schüler:innen. „Nach den Black-Lives-Matter-Protesten haben wir in der Diversity Task Force viel darüber gesprochen, dass die Perspektive derer, die kolonisiert wurden, in gesellschaftlichen Debatten viel zu häufig fehlt“, erzählt die Zwölftklässlerin Chloé. Um das zu ändern, müsse sich als Erstes die Schule ändern und ihren Kanon um dekoloniale Perspektiven erweitern. Wenn das nicht an der internationalen Nelson-Mandela-Schule gelinge, an der vergleichsweise viele People of Color sind und der Unterricht auf Englisch stattfindet – wo dann?
Aus dem Anliegen der Diversity Task Force ist, mit der Unterstützung einiger Lehrer:innen, ein bundesweites Modellprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung geworden: die Black History Class. Im vergangenen Jahr wurde zunächst gemeinsam über ein mögliches Curriculum beraten, Anfang dieses Schuljahres ging es los. Alle Schüler:innen ab der 11. Klasse durften bei den monatlichen Workshops teilnehmen. Einmal im Halbjahr gab es noch einen Studientag für die ganze Schule. Mittlerweile steht fest, dass das Seminar im nächsten Schuljahr weitergeführt wird.
Workshop geht unter die Haut
Das freut auch Chloé. „Ich finde es super, was wir in diesem Jahr alles gemacht haben“, sagt sie und zählt auf: Empowerment-Workshops für Schwarze Schüler:innen, Anti-Rassismus-Workshops für den Rest. Ein Spaziergang durchs Afrikanische Viertel, in dem bis heute viele Straßen nach Kolonialverbrechern benannt sind. Ein Seminar zu Schwarzer Popgeschichte inklusive Besuch einer Fachbibliothek. Das Seminar mit der Nama-Aktivistin Luipert bezeichnet Chloé, die auch in Urbahns Geschichts-Leistungskurs ist, als einmaliges Erlebnis. Wie vielen Mitschüler:innen geht auch Chloé der Workshop unter die Haut.
„Als Schwarze Frau zu hören, dass sexuelle Gewalt gegen Schwarze Frauen als Kriegsmittel eingesetzt wurde, macht mich traurig und wütend.“ Das Programm der Black History Class hat die Diversity Task Force gemeinsam mit dem Berliner Verein Each One Teach One (EOTO) erstellt. Auch Projektleiterin Makda Isak hält die deutschen Lehrpläne bei der Behandlung der deutschen Kolonialgeschichte für stark lückenhaft. „Es ist erschreckend, wie wenig sich seit meiner eigenen Schulzeit getan hat“, sagt Isak. Sie beobachtet, dass dekoloniale Perspektiven immer noch die Ausnahme im Unterricht sind.
„Schulsystem verändern“
Ziel der Black History Class sei aber nicht allein, die Lücken im deutschen Lehrplan zu stopfen: „Unser Ansatz ist, dass wir das Schulsystem verändern wollen, indem wir junge Menschen empowern“, sagt Isak. An der Nelson-Mandela-Schule scheint das Konzept aufzugehen. „In diesem Jahr haben die älteren Schüler:innen bereits Workshops für die jüngeren gegeben“, berichtet Makda Isak. „Und auch für die Lehrkräfte“. Ähnliche Ziele formuliert auch Peggy Piesche, die das Projekt bei der Bundeszentrale für politische Bildung betreut.
Piesche leitet am bpb-Standort Gera den Fachbereich Politische Bildung und plurale Demokratie. Ihre Schwerpunkte dabei sind Diversität, Intersektionalität und Dekolonialität. „Wir wollen, dass die Schüler:innen Selbstwirksamkeit erfahren und Akteur:innen von Veränderungsprozessen werden“, sagt Piesche. Für intersektionale Bildungsarbeit sei dieser Ansatz zentral. Und er entspreche auch der Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen heute. „In den Schulen ist die gesellschaftliche Vielfalt viel größer als noch vor zehn, zwanzig Jahren“, sagt Piesche, die als Schwarze Person in der DDR aufgewachsen ist. Diese Diversität müssten die Lehrpläne stärker widerspiegeln. Das Projekt Black History Class sei ein gutes Beispiel, wie sich die Schulen aber langsam für antikoloniale Perspektiven öffneten. Wie wichtig diese Öffnung für die gesamte Gesellschaft wäre, erkennt Piesche an vielen aktuellen Debatten, wie etwa dem zögerlichen Umgang mit geraubten Kunstobjekten.
Baerbock verweigerte ein Treffen
„Es geht letztlich auch darum, wie wir uns als Gesellschaft an unsere Kolonialgeschichte erinnern wollen“, sagt Piesche. Das fordert auch Sima Luipert ein. „Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um irgendjemand um Hilfe zu bitten“, sagt sie. „Im Gegenteil: Ich bin hier, um euch dabei zu helfen, euch dieser Vergangenheit zu stellen.“ Aus Luiperts Sicht bedeutet das vor allem, die Bundesregierung in die Verantwortung zu nehmen. Von der neuen Außenministerin Annalena Baerbock ist Luipert enttäuscht. Vor der Bundestagswahl hätten die Grünen ihre Forderungen nach einem Dialog auf Augenhöhe noch unterstützt. Bisher habe Baerbock aber ein Treffen mit Luipert verweigert.
Für Tag drei des Seminars ist eine Vertreterin des Auswärtigen Amtes eingeladen, die Leiterin des Referats Grundsatzfragen Subsahara-Afrika. Geplant ist eine Diskussionsrunde zu Reparationen und angemessenem Gedenken. Die Schüler:innen der Nelson-Mandela-Schule sollen die Fragen stellen.
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