Deutsche Handballer bei der EM: Vielseitige Teamarbeiter
Bei der Handball-EM kompensiert das deutsche Team Ausfälle bislang mit Allroundern. Ein Coronaausbruch verschärft nun aber die Lage.
In der offiziellen Broschüre des Europäischen Handballverbandes zur Europameisterschaft spielt Christoph Steinert noch beim SC Magdeburg. Dort, im Internat des Traditionsvereins, hat er seine Profikarriere zwischen 2007 und 2009 zwar entscheidend angeschoben – doch seit Sommer 2021 steht der 195 Zentimeter lange Rückraumspieler nach zwei erneuten Jahren beim SCM nun in Erlangen unter Vertrag. Man muss den Fehleintrag nicht überinterpretieren. Aber im Kreis der deutschen Elitespieler ist Steinert schon ein Übersehener – an diesem Dienstag wird er 32 Jahre alt und hat am Sonntag doch erst sein viertes Länderspiel für den Deutschen Handballbund (DHB) bestritten.
Wie ein Debütant tritt der Berliner indes überhaupt nicht auf. Sowohl zum Start gegen Belarus am Freitag als auch beim 34:29 zwei Tage später gegen Österreich war Steinert einer der Hauptdarsteller. Und er genoss diese Rolle. Er war vorn und hinten gefragt, machte aus sechs Versuchen fünf Tore und brachte die nötige Aggressivität mit. Steinert ist ein Allrounder, der auf der Halbposition deckt, im Rückraum, aber auch außen spielen kann – eben da, wo der Trainer ihn hinstellt. Er sagt: „Ich kann alles ganz gut, deswegen bin ich hier auch dabei.“
In seinem Personalpuzzle für diese Europameisterschaft in Ungarn und der Slowakei setzt Bundestrainer Alfred Gislason auf Allrounder. Er kaschiert dadurch Schwachstellen im Kader, repariert Abwehrschwächen einzelner oder verschafft älteren Akteuren Pausen.
Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Erheblich erschwert wird sie nun durch einen Corona-Ausbruch im Team. Am Montagabend gab der DHB bekannt, dass gleich fünf Nationalspieler positiv auf Corona getestet wurden: Torwart Andreas Wolff, die Rückraumspieler Kai Häfner und Luca Witzke sowie die Außen Timo Kastening und Lukas Mertens fallen damit vorerst aus. Für sie nachnominiert wurden Torwart-Routinier Johannes Bitter, Linksaußen Rune Dahmke, Kreisläufer Sebastian Firnhaber sowie die Rückraumspieler Paul Drux und Fabian Wiede. Sie stoßen an diesem Dienstag bereits zur Mannschaft und sind bei negativem PCR-Test sogleich einsatzfähig.
Auch der nun positiv getestete Luca Witzke vom SC DHfK Leipzig hatte bislang durch seine Vielseitigkeit überzeugt. In der zweiten Halbzeit gegen Österreich führte Witzke Regie, neben ihm im Rückraum waren Sebastian Heymann und Steinert unterwegs. Es war die Phase, als die Deutschen wegzogen, ihren zweiten Sieg sicherstellten und schon vor dem letzten Gruppenspiel gegen Polen am Dienstag (18 Uhr/ZDF) in die Hauptrunde einzogen.
Chance für die zweite Reihe
Steinert und Witzke sind bei Mittelklasseklubs zu Hause, nicht in Flensburg, Kiel oder Magdeburg. Beim DHB gilt die Devise, dass jeder deutsche Stammspieler eines Bundesligavereins das Zeug zum Nationalspieler hat. So verschafft sich der Verband eine breitere Basis, um Rücktritte, Pausen und Verletzungen arrivierter Spieler aufzufangen – bei dieser „Euro“ fehlt eine komplette erste Sieben an etablierten Profis.
Das ist die Chance für Steinert und Co. Bisher haben diese gut ausgebildeten Spieler sie genutzt. „Es macht unheimlich viel Spaß, mit ihnen zu arbeiten“, lobte Bundestrainer Alfred Gislason. Wie versprochen, hatte er gegen Österreich den Kader ausprobiert, nachdem das erste Spiel seiner Stamm-Sieben vorbehalten war. In beiden Partien hatten sich die Deutschen lange schwergetan, letztlich auch wegen der breiteren Bank gewonnen. „Österreich hatte nur einen Rückraum“, sagte Christoph Steinert, „das macht etwas aus.“ Individuell mögen die Topnationen besser sein. Als Team hat die DHB-Auswahl bislang überzeugt.
Was auch daran liegt, dass sich einer wie Timo Kastening nicht in den Schmollwinkel zurückzieht. Als „Taktikopfer“ Gislasons hatte Kastening gegen Belarus kaum gespielt. Steinert übernahm seine Position. Am Sonntag begann Rechtsaußen Kastening, traf in der schwachen ersten Hälfte drei Mal, nach der Pause sieben Mal. „Timo hat kein Problem damit, mal draußen zu sein“, sagte Gislason, „bei uns ordnet sich jeder der Taktik unter.“ Nun darf Kastening coronabedingt erst einmal nicht mehr mitmachen.
Gegen die starken Polen geht es darum, mit zwei Punkten in die Hauptrunde zu gehen. Während sich Deutschland mühte, hat Polen zwei sichere Siege hingelegt. Eine junge, schnelle Mannschaft mit knallharter Abwehr und viel Champions-League-Erfahrung auf Klubebene mit KS Kielce ist das, die schon jetzt auf die Heim-WM 2023 zustrebt. Zudem könnten einige Spieler nach coronabedingter Quarantäne zurückkehren.
Die Deutschen wollen diesmal von Beginn an hellwach sein – wobei Gislason lieber von den Stärken sprach, als er sagte: „Wir gewinnen so gut wie immer die letzte Viertelstunde. Das zeigt, wie gut die Mannschaft mit Druck umgeht.“ Ob ihr das auch nach den erneuten zahlreichen Ausfällen gelingen kann, ist nun die große Frage.
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