Deutsch-ukrainisches Grabungsprojekt: Archäologie im Kriegsgebiet

An der Ostgrenze der Kiewer Rus liegt das Gräberfeld Ostriv. Was dort gefunden wird, wirft ein neues Licht auf die Geschichte des damaligen Reichs.

Eine Hufeisenfibel liegt im Sand, davor zwei Schilder

Hinweise auf Menschen aus dem Baltikum im Gräberfeld: eine Hufeisenfibel vom westbaltischen Typ Foto: Foto: Landesmuseen SH

SCHLESWIG taz | Wis­sen­schaft­le­r*in­nen aus Deutschland und der Ukraine erforschen gemeinsam ein Gräberfeld hundert Kilometer südlich von Kiew. Bei der archäologischen Forschung im Kriegsgebiet geht es um wissenschaftliche Fragen – aber eine politische Komponente schwingt mit.

Vjacheslav Baranov kann gerade nicht in die Videoschalte kommen. Zwar herrscht an der Ausgrabungsstelle zwischen Ostriv und Pugačivka, wo Baranov und sein Team arbeiten, Ruhe. Bomben schlagen in der ländlichen Region nicht ein. Aber der Strom fällt immer wieder aus, schließlich sind seit Tagen Kraft- und Umspannwerke unter Beschuss.

Archäologische Forschungen in Zeiten des Krieges: Das sei natürlich nicht geplant gewesen, sagt Jens Schneeweiß vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie (ZBSA) mit Sitz in Schleswig, der das Forschungsprojekt federführend leitet. Beteiligt sind die Ukrainische Akademie der Wissenschaften in Kiew sowie Labore und Fachstellen in mehreren Ländern.

Anfang Februar reichte die Gruppe den Förderantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein. Zwei Wochen später, am 24. Februar, marschierte die russische Armee in die Ukraine ein. Weitermachen oder stoppen? „Wir haben unseren Antrag um ein weiteres Schreiben ergänzt, um deutlich zu machen, dass wir unbedingt an diesem Projekt festhalten wollen“, sagt Schneeweiß. Wann und wie gegraben wird, entscheiden die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen vor Ort.

Untypische Grabbeigaben

„Grundsätzlich sind zwar die meisten archäologischen Gegenstände unter der Erde sicherer als darüber“, so Schneeweiß. „Außer es besteht die Gefahr von Raubgrabungen.“ Das sei in diesem Fall nicht auszuschließen.

Die ukrainischen Pro­jekt­teil­neh­me­r*in­nen haben daher direkt neben dem Gräberfeld eine „Basis“ errichtet, in der unter einem festen Dach Gegenstände gelagert und gesichtet werden können, bevor sie nach Kiew gebracht und dort gelagert werden. Das Wichtigste sei dort, Fundstücke zu scannen und digital zu sichern, falls Museen zerstört werden. Das mittelalterliche Gräberfeld, das auf einer grünen Wiese zwischen Feldern am Flüsschen Ros liegt, gilt bereits als eine der bedeutendsten Fundstellen in der post-sowjetischen Ukraine.

Zwischen zwei Felder an einem kleinen Fluss mit Bäumen am Ufer liegt ein drittes Feld

Bedeutender Fund: das mittelalterliche Gräberfeld Ostriv zwischen Feldern am Flüsschen Ros Foto: Roman Shiroukhov © ZBSA

Einen ersten Eindruck verschaffte sich im Jahr 2017 eine ukrainische Gruppe des Kiewer Archäologischen Instituts um den heutigen Grabungsleiter Baranov: „Sie hatten von einem alten Gräberfeld gehört, das damals schon teilweise geplündert war“, berichtet Roman Shiroukhov, einer der Initiatoren der Ostriv-Pilotstudie und heute ebenfalls beim ZBSA in Schleswig beschäftigt. Der Archäologe stammt aus Kaliningrad, hat in Litauen, Polen, Russland geforscht und kam über ein Humboldt-Stipendium nach Schleswig.

Als Experte für das Baltikum bekam er eine Anfrage von der ukrainischen Gruppe aus Ostriv. „Denn die Kollegen hatten Grabbeigaben gefunden, die für das Gebiet der Kiewer Rus sehr untypisch waren“, berichtet Shiroukhov. Bis dahin sei er nie in der Ukraine gewesen – „man hörte immer, es sei sehr chaotisch und es gebe viele Probleme“ – aber die Zusammenarbeit lehrte ihn eines Besseren: „Alles lief sehr gut, es gab Interesse von beiden Seiten, zu guten Ergebnissen zu kommen.“

Mit dem ganzen wissenschaftlichen Besteck der Zunft nahm ein internationales Forschungsteam die Funde unter die Lupe: Es gab Laboranalysen und Gentests, das Alter der Knochen und Gegenstände wurden mit der Radiokarbonmethode bestimmt. „Unser Ziel war, die Herkunft der Leute herauszufinden“, sagt Shiroukhov. Schnell kam heraus: Ja, die Toten waren Migrant*innen. Auf dem Gräberfeld an der Grenze der damaligen Kiewer Rus lagen Menschen aus Skandinavien, dem Baltikum und aus dem finnisch-ugrischen Kulturkreis.

Abzulesen lässt sich das an den Gen-Vergleichen, aber auch den Grabbeigaben. Denn die Kiewer Rus war zu diesem Zeitpunkt – es geht um die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts, die Blütezeit des damaligen Reiches – christlich. Die Gräber von Ostriv waren aber nicht von West nach Ost ausgerichtet, wie nach christlicher Sitte üblich, und die Beigaben sprechen davon, dass die Menschen an ein Leben nach dem Tod glaubten, in dem Schmuck oder Waffen von Nutzen sein konnten.

„Die ersten Studien ab 2017 haben bewiesen, dass es eine externe Population gab“, sagt Forschungsleiter Schneeweiß. „Aber woher genau kommen sie, wer sind sie? Kamen nur Männer, brachten sie Frauen und Kinder mit oder gründeten sie dort neue Familien?“ Eine weitere Frage lautet, ob das Feld bei Ostriv – der Name bedeutet „Insel“ – einmalig ist. Denn es befindet sich nahe einer Burganlage, die an der Grenze des damaligen Reiches lag. „Eigentlich wollten wir mit dem jetzt laufenden Forschungsprojekt mit Luftaufnahmen und Georadar den Grenzverlauf erkunden und mögliche weitere Gräberfelder finden“, sagt Schneeweiß. Das ist unter den aktuellen Bedingungen unmöglich. Zurzeit wird gegraben und untersucht, Grab für Grab.

Schneeweiß befasst sich mit Konflikt­archäologie, schaut also darauf, wie Konflikte gelöst werden. Nicht ganz einfach, denn „friedliche Lösungen hinterlassen, anders als Kriege, keine Spuren im Boden“, sagt der Forscher, der in Berlin und in den 90er-Jahren in St. Petersburg studiert und über eisenzeitliche Funde in Westsibirien promoviert hat. „Da können wir nur über die Metaebene ran.“

Zum Beispiel: Eine Burganlage und viele Waffen in den Gräbern, aber nirgendwo Zeichen eines Angriffs könnte bedeuteten, dass die Abschreckung funktioniert hat. Eigentlich ein Nischenthema. „Dass es jetzt so eine Aktualität hat, war nicht vorauszusehen“, sagt Schneeweiß.

Die Kiewer Rus ist sowohl für die Ukraine wie für Russland mit Bedeutung aufgeladen. Beide Seiten sehen das Reich, das im 9. Jahrhundert gegründet wurde, im 11. seine Blütezeit erreichte und um 1240 nach Angriffen mongolischer Reitervölkern zerfiel, als Wiege ihrer heutigen Staaten.

Im Sommer 2021, als bereits erste Truppen an der Grenze der Ukraine zusammengezogen wurden, erschien auf der Website des Kreml ein Aufsatz aus der Feder von Russlands Präsident Wladimir Putin, in der er seinen Blick auf die Geschichte erklärt: Russen, Ukrainer und Weißrussen, so heißt es dort, bildeten einen mächtigen Staat, in dem „slavische und andere Stämme“ unter einer Sprache vereint gewesen seien, dem einen orthodoxen Glauben anhingen und, unter Achtung der Rechte einzelner Fürsten, sich einer zentralen Regierung beugten. Der Text „liest sich wie eine Mischung aus Seminararbeit und politischem Pamphlet“, schrieb die Neue Zürcher Zeitung. Wissenschaftlich fundiert sind die Thesen darin nicht, aber Putin leitet daraus seinen Anspruch auf die Ukraine ab.

Putin ist kein Historiker

Die politische Dimension der laufenden Grabung hätte das Team zwar im Hinterkopf, sagt Jens Schneeweiß. „Aber auf eine Diskussion darüber würde ich mich nicht einlassen, einfach weil Putin kein Historiker ist und nicht historisch argumentiert.“ Hinzu kommt: „Selbst wenn es damals diese Einheit gab, lässt sich daraus für heute nichts ableiten.“

Doch die These vom einen Volk, der einen Sprache und dem einen Glauben steht angesichts der Funde von Ostriv auf wackeligen Füßen. Dort mischen sich Riten und Glaubenssymbole. Spindeln mit eingeritzten Kreuzen liegen in heidnischen Gräbern – Multikulti statt Leitkultur. Vielleicht zählt das nicht besonders, weil die Toten Fremdarbeiter und bezahlte Söldner waren. Vielleicht aber waren sie auch geachtete Mitbürger*innen: Vieles ist noch unklar.

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew und ZBSA läuft drei Jahre, es besteht die Chance auf Verlängerung. „Dann wollen wir den weiteren Grenzverlauf in den Blick nehmen“, sagt Schneeweiß.

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