Deutsch-russisches Verhältnis: Auszeit für Putin
Russland setzt außenpolitisch auf Expansion und destabilisiert die EU. Besonders Deutschland muss lernen, neue Antworten darauf zu finden.
W erden Deutschland und seine Kanzlerin noch die Sonderrolle wahrnehmen, die sie im Verhältnis zu Moskau jahrelang innehatten, fragt Dmitri Trenin, außenpolitischer Analytiker von der Carnegie-Stiftung in Moskau.
Anlass war der Giftgasanschlag auf den Oppositionellen Alexei Nawalny in Russland. Nun drängten Ungereimtheiten im beidseitigen Verhältnis an die Oberfläche. Bislang hatte sich Berlin um das Verständnis des Kreml bemüht und wurde auch als Erklärer Russlands von den EU-Partnern akzeptiert. Diese Rolle entfalle nun, so Trenin. Im Umgang mit Berlin empfiehlt er eine Auszeit, um weitere Irritationen zu vermeiden.
Fjodor Lukjanow sieht die Abkühlung im deutsch-russischen Verhältnis gelassener. Dem Herausgeber der einflussreichsten außenpolitischen Zeitschrift Russia in Global Affairs erscheint der Dialog zwischen Russland und dem Westen, in dem Deutschland als Hauptgesprächspartner auftrat, eher „unwahrscheinlich skurril“. Berlins Einfluss entspricht nicht jenem Gewicht, das es als Vermittler russischer Positionen haben müsste. Nicht zuletzt erschloss sich Moskau durch militärische Erfolge in Syrien und Libyen Anerkennung als internationale Führungsmacht.
Für Moskau gelte es daher, ein Verhaltensmodell in einer Welt zu finden, deren Mittelpunkt Asien ist mit Russlands wichtigstem Partner China. Brüssel und Berlin hätten es in der Aufbauphase der EU versäumt, Moskau eine Sonderrolle anzubieten, so Lukjanow.
Orientierungsphase für neue Identitäten
Gleichwohl hatte der Kreml nie ernsthaft erwogen, sich europäischen Regeln anzupassen. Unter Boris Jelzin, Russlands erstem Präsidenten, lautete die Formel noch: Wenn jemand integriert, dann Russland. Mit der Verschiebung nach Asien breite sich nun ein Wertepluralismus aus, dem Europa sich nicht widersetzen könne. Lukjanow plädiert für Distanz zwischen Moskau, EU und Berlin. Im Gegensatz zu Trenin nimmt er die Zeit als Orientierungsphase wahr, in der Moskau und Berlin eine neue Identität entwickeln können.
Es gebe gewisse Reizpunkte, doch „wir brauchen einander“, fasste der Kremlsprecher Präsident Putins Haltung zu Deutschland zusammen. Alles wie gehabt? Das trügt indes: Nähe zwischen Russland und Deutschland gehört seit Langem der Vergangenheit an.
Der Dialog mit Russland war lange ein Eckpfeiler sozialdemokratischer Ostpolitik gewesen. Auch nach der Wiedervereinigung verlor die ostpolitische Maxime „Wandel durch Annäherung“ in Deutschland nicht an Befürwortern. Doch Russland machte aus dem Anspruch auf ehemalige Teile des Imperiums keinen Hehl. 2008 besetzte Moskau Teile Georgiens und erklärte zwei Teilrepubliken zu unabhängigen Staaten. Schon 2007 sorgte Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz für Aufmerksamkeit. Russland werde sich einem US-Diktat nicht beugen, so Putin. Niemand hatte im Westen diesen Auftritt erwartet. 2008 versuchte Außenminister Frank-Walter Steinmeier noch einmal, eine Modernisierungspartnerschaft mit Moskau aufzulegen. Vergebens: Berlin war aus russischer Sicht zum Gegner geworden, zog daraus aber keine Schlüsse.
2011/2012 protestierten Wähler gegen Manipulationen bei den Duma-Wahlen. Kurz darauf kehrte Wladimir Putin ins Präsidentenamt zurück. Dmitri Medwedjew hatte die Funktion für einen Durchgang vorher innegehabt. Moskau ging mit Gewalt gegen die Proteste vor. Dennoch hob der bilaterale Dialog weiterhin die Bedeutung gemeinsamer Werte hervor.
2014 folgten die Annexion der Krim und die Besetzung des ukrainischen Donbass. Der malaysische Maschine des Flugs MH17 wurde über der Ukraine abgeschossen. Russland verschleierte die Aufdeckung durch Dutzende Versionen des Tathergangs. Dennoch war Moskau überrascht, als Deutschland sich an den Sanktionen nach der Annexion beteiligte. 2015 wurde das Computernetzwerk des Bundestags gehackt. Spuren ließen sich bis zum militärischen Geheimdienst Russlands (GRU) zurückverfolgen. 2016 mischte sich Moskau in die US-Präsidentschaftswahlen ein, 2017 in die französischen. Überdies aktivierte der Kreml die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in der EU. 2019 wurde ein Tschetschene in Berlin ermordet. Er hatte zuvor im Kaukasus gegen Russland gekämpft. Der Mord war vom russischen Geheimdienst angeordnet worden.
Kurz: Russland zielt darauf ab, Unruhe zu stiften und innenpolitische Stabilität in der EU zu stören. Dabei stehen eigener Machterhalt und Selbstbereicherung der Eliten im Mittelpunkt.
Um Moskau im Fall Nawalny zu bewegen, Ermittlungen einzuleiten, erwog Angela Merkel, die Nord-Stream-2-Pipeline als Druckmittel einzusetzen. Die Pipeline versorgt das System Putin und stattet auch die Firmen der Oligarchen mit Geldern und Kontakten aus. Längst ist dieses Modell auch in der EU aktiv. Merkel beließ es bei Überlegungen und tastete die Pipeline nicht an. Der Glaube, den Lieferanten zur Kompromissbereitschaft bewegen zu können, ist hartnäckig.
Freiheit zum Rückzug
Das Fazit aus den Erfahrungen der letzten Jahre: Der Kreml lässt sich nicht unter Druck setzen. Die militärische Stärke der EU ist zu gering, auch sonst fehlen Druckmittel. Vielleicht wäre die „Auszeit“, die die russischen Außenpolitiker vorschlagen, tatsächlich eine Alternative. Zurzeit findet Kommunikation nur um des Redens willen statt. Die westliche Neigung zur Kommunikation beförderte aber selten Systemwandel. In Russland wird sie oft belächelt. Natürlich müssen Sicherheitspolitik und Rüstungskontrolle weiterverhandelt werden. Wo unterschiedliche Interessen das Fortkommen beim Grundsätzlichen behindern, sollte die Freiheit zum Rückzug gelten.
Klare Positionen sind Voraussetzung für jedes Gespräch – bar jeder Romantik. Moskau ist wieder ein autoritäres Regime. Diesmal nur ein anderes. Der Umgang damit muss wieder gelernt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei