Der neue Roman von Sven Regener: Er lässt sie einfach loslabern
Sven Regener ist ein treuer Autor. Seine Figuren behandelt er wie alte Freunde. In seinem neuen Buch schickt er sie in die Technoszene der Nachwendezeit.
Einsam, so viel ist schon mal sicher, einsam ist Sven Regener nur selten. Sowohl privat als auch beruflich hat er, als Familienvater und als Mitglied einer Rockband, ausreichend Menschen um sich. Und als würde das nicht genügen, haben sich auch noch die Charaktere der Bücher, die er schreibt, in Menschen verwandelt, die ihn stets begleiten. „Das sind gute Freunde“, sagt er, „die man auch mal ein paar Jahre nicht sieht, aber wenn man sie anruft oder trifft, dann würde schon wieder was gehen.“
Einer dieser Freunde, mit denen immer was geht, trägt den Namen Karl Schmidt. Wer Regeners bisherige Romane, die Trilogie um Herrn Lehmann, kennt, der kennt auch diesen Karl Schmidt. Als bester Freund des Antihelden Frank Lehmann ist er dessen Beschützer, Ersatzbruder, Saufkumpan und Projektionsfläche. Angesichts des phlegmatischen Charakters des Protagonisten rutschte Schmidt in den Lehmann-Romanen immer wieder sogar in die Rolle der treibenden Kraft. Nun, mit Regeners neuem Roman, „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“, bekommt die frühere Nebenfigur ihre eigene Geschichte.
Die beginnt im Jahre 1995, also knapp sechs Jahre nachdem „Herr Lehmann“ mit dem Fall der Berliner Mauer endete. In dieser Nacht des 9. November 1989 hatte Karl Schmidt einen offenbar drogeninduzierten Nervenzusammenbruch. Herr Lehmann hatte seinen Freund ins Krankenhaus gebracht und dort zurückgelassen.
Sechs Jahre später lebt Karl nicht mehr in Berlin, sondern in einer betreuten WG in Hamburg mit anderen Suchtpatienten, arbeitet als Hilfshausmeister in einem Kinderkurheim, ist runter von allen Drogen und sitzt gerade in Altona in einer Pizzeria, als ihn die Vergangenheit wieder einholt: Raimund Schulte kommt durch die Tür, ein Bekannter von früher, einer aus der mysteriösen Parallelwelt, in der Karl in der Lehmann-Trilogie immer wieder abtauchte.
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Es war, damals in den späten achtziger Jahren, die Welt der ersten Techno-Partys, als die neuartige „Bumbum-Musik“, wie sie Regeners Protagonisten nennen, noch Acid House hieß und von geheimniskrämerischen Zirkeln in legendenumwobenen Kellerclubs in vom Abriss bedrohten Hausruinen der Noch-Mauerstadt gefeiert wurde.
Eine Aufbruchszeit, die in „Herr Lehmann“, der vornehmlich in Kreuzberger Kneipen spielte, nur zu erahnende Hintergrundfolie war. Beim Gespräch in den Räumen seines Verlages in Berlin erzählt Regener von einer Filmszene, die er für die Verfilmung seines ersten Erfolgsromans auf Wunsch der Produzenten geschrieben hatte, die es dann aber doch nicht in den Film von Leander Haußmann geschafft hatte, in dem Christian Ulmen Frank Lehmann und Detlev Buck den Karl Schmidt spielten.
Die beiden gehen auf eine frühe Techno-Party, die Kamera fängt nur Trockeneisnebel ein, ab und zu ist eine zuckend tanzende Gestalt zu sehen. „Dann treffen sich alle an dem Tapetentisch, wo es die Getränke gibt“, sagt Regener und freut sich auf die Pointe, „und Frank Lehmann sagt den schönen Satz: Herr Schmidt, ich glaube nicht, dass sich das durchsetzen wird.“
Aufreiß- und Fickding für Spanner
Herr Lehmann hatte sich geirrt. Nur fünf Jahre später ist Techno im Mainstream angekommen und droht, so lässt es Regener einen seiner Protagonisten sagen, zum „Aufreiß- und Fickding für Spanner und Neuköllner Jogginganzugsfreaks“ zu verkommen. Die Love Parade wird zum Millionenereignis, die alten Kumpels von Karl betreiben eine erfolgreiche Plattenfirma, und Raimund will mit einem halben Dutzend DJs und Musikern auf große „Magical Mystery“-Tournee gehen.
Dafür braucht er aber einen Aufpasser, der in der Lage ist, eine trink- und drogenaffine Horde durch die Fährnisse einer mehrwöchigen Abenteuerreise durch Amüsiertempel zu bugsieren. Für diese Aufgabe ist Karl, aufgrund seiner Vergangenheit zur Nüchternheit verpflichtet, qualifiziert wie kein Zweiter, findet zumindest Raimund.
Karl sagt zu, flüchtet aus seiner geordneten Exjunkie-Welt, in der alles darauf ausgerichtet ist, nicht rückfällig zu werden, und begibt sich samt seiner ihn anfallartig heimsuchenden Depressionen, die er „das dunkle Gefühl“ nennt, zuerst in dieses neue, doppelt so große Berlin und dann ausgerechnet in das Zentrum des Orkans, wo die Partys mit dem „guten alten Bumbum“ schon mal mehrere Tage dauern, die neuen, im Labor entwickelten Drogen dem guten alten Alkohol und dem Haschisch Konkurrenz machen, und die Feierei per Wald-und-Wiesen-Philosophie zum Mittel der Weltverbesserung verklärt wird.
Aus dieser etwas konstruierten Experimentieranordnung entwickelt Regener immer wieder seinen absurden, mit viel Lakonie abgefederten Humor, aber auch eine Geschichte, in der – wie bei ihm üblich – nicht eben wahnsinnig viel passiert, die aber einen gehörigen Zug entwickelt.
Ein Arsenal schräger Figuren
Dazu tragen zwei Meerschweinchen namens Lolek und Bolek bei, die unfreiwillig mit auf Tour kommen, „der Hit mit der Flöte“, der eigentlich ein Hit mit Saxofon ist, und die DJane Rosa, mit der Karl eine sehr zarte, bisweilen seltsam kühle und ironisch distanzierte, aber für Regener schlussendlich dann doch ungewohnt romantische Liebesgeschichte erleben darf. Für Situationskomik und Dialogwitz zuständig ist ein ganzes Arsenal schräger Figuren wie Werner, der Sozialpädagoge, der Karls mit „Fürsorgefleisch“ besetzte Drogen-WG betreut, sich auf die Fersen seines flüchtigen Klienten begibt und schließlich selbst kräftig mitfeiert, als die Geschichte in einem riesigen Rave kulminiert in der Essener Ruhr-Emscher-Halle, der offensichtlich angelehnt ist an die Mayday in der Dortmunder Westfalenhalle.
Trotz vieler solcher Parallelen ist „Magical Mystery“ kein Schlüsselroman, darauf legt Regener Wert. Aber trotz seiner künstlerischen Distanz zur elektronischen Musik ist dem Sänger, Trompeter und Texter der Rockband Element of Crime ein durchaus realistisches Porträt der frühen Techno-Szene gelungen. Er habe, sagt der mittlerweile 52-jährige Regener, zu Beginn der neunziger Jahre in Berlin immer wieder mit den Kollegen aus dem Techno abgehangen, er sei auch gern in die einschlägigen Clubs gegangen: „Die hatten einfach die besseren Partys, da ging die Post ab.“
Dank dieser eigenen Anschauung trifft Regener den Tonfall dieser Idealisten, die plötzlich und zur eigenen Überraschung zu sehr viel Geld gekommen waren. Trotzdem erzählt er als Außenseiter, der er als Rockmusiker ja auch ist, aber mit viel Einfühlungsvermögen. Der literarische Trick, den er dabei benutzt, ist simpel, aber effektiv: Er nimmt die Sicht von Karl ein, die, so Regener, „gezwungenermaßen eine beobachtende ist, weil er wie nach fünf Jahren Tiefkühltruhe rausgekommen ist und alles mit ganz neuen Augen sieht“.
Das ist einer von vielen Momenten, in denen Regener von seinen Figuren spricht, als existierten sie wirklich. Als würde der Autor die von ihm entworfenen Charaktere regelmäßig in der Kneipe treffen, wo sie ihm aus ihrem Leben erzählen. „Das sind zwar ausgedachte Figuren, aber für mich mittlerweile lebendige Subjekte“, erklärt Regener. Immer wieder mäandert das Gespräch zu diesen, seinen Geschöpfen.
Wie ein guter Bekannter
Dann sitzen Karl, Rosa oder Werner mit am Tisch, Regener sagt, das ist doch klar, warum der da diesen Satz sagt, der ist doch so oder so, und dass er sich da nicht gut fühlt, das kommt daher, dass ihm mal dieses passiert ist. Wie ein guter Bekannter versucht er ihre Motivationen zu erklären, spekuliert über ihr Vorlieben, erinnert sich an ihre Vergangenheit. Man wartet nur noch darauf, dass er seinen Kalender herausholt und nachschlägt, wann genau Karl Schmidt Geburtstag hat.
Nein, Sven Regener ist, auch wenn sich das, während man seine Bücher liest, manchmal so anfühlt, kein allwissender Erzähler. Er sagt über seine Protagonisten: „Ich lass die dann einfach mal loslabern.“
Das tun die, erst einmal freigelassen, dann auch in aller denkbaren Ausführlichkeit. Man hat Regener schon öfter vorgeworfen, in seinen dialoglastigen Romanen fehle es an Handlung. Ein Vorwurf, der ihn immer noch in Rage bringt. Dann könne man ja auch Shakespeare Handlungsarmut vorwerfen, grummelt er.
Tatsächlich hat Regener schon immer fast systematisch auf Beschreibungen verzichtet und seine Geschichten mit Zwiegesprächen und inneren Monologen vorangetrieben. Aber noch nie war Regener so in seinem Element wie in „Magical Mystery“. Kein Wunder, denn hier hat er Protagonisten zur Verfügung, die angefeuert von Alkohol und Drogen, Feierlaune und Übernächtigung plappern und schwätzen, sabbeln und schwafeln, quasseln und faseln, sich um Kopf und Kragen reden, aber durchaus auch mal was Schlaues sagen.
Sven Regener: „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“. Galiani, Berlin 2013, 420 Seiten, 20,60 Euro
Gute Freunde eben, denen man, wenn man sie denn mal wieder trifft, sehr gerne zuhört.
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